Thüringische Landeszeitung (Jena)

Ein schrumpfen­der Riese

China gerät in Schwierigk­eiten: Die Bevölkerun­g wird kleiner, die Wirtschaft lahmt

- Fabian Kretschmer

Das Pekinger Statistika­mt sorgte am Dienstagmo­rgen gleich doppelt für Aufsehen: Laut den jüngsten Wirtschaft­szahlen ist Chinas Bruttoinla­ndsprodukt im Vorjahr nur um drei Prozent gewachsen, womit die Regierung ihr selbst gestecktes Ziel von 5,5 Prozent deutlich verfehlte. Doch die schwächeln­de Wirtschaft dürfte den Machthaber­n nur kurzfristi­ge Kopfschmer­zen bereiten, da eine sukzessive Erholung in den kommenden Quartalen als wahrschein­lich gilt. Grund für eine langfristi­ge Migräne lieferte das Statistika­mt allerdings ebenfalls.

Denn erstmals seit den Hungersnöt­en zu Beginn der 1960er-Jahre ist Chinas Bevölkerun­g im Vorjahr geschrumpf­t – um satte 850.000 Personen. Ursprüngli­ch hatten die Behörden erwartet, dass dieser folgenreic­he „Wendepunkt“frühestens gegen Ende der Dekade erreicht würde. Doch die Geburtenra­te ist unaufhalts­am weiter gesunken, derzeit befindet sie sich mit 6,77 Neugeboren­en auf 1000 Menschen auf einem historisch­en Rekordtief.

Die Sterberate stieg hingegen deutlich auf einen Wert von 7,37 pro 1000 Menschen.

Düstere Aussichten mit Folgen für Europa

Yi Fuxian, Wissenscha­ftler an der University of Wisconsin-Madison in den USA, spricht weiterhin von einer „krassen Unterschät­zung“. Seine empirische­n Studien legen nahe, dass die offizielle­n Daten der Regierung geschönt sind und der demografis­che Wandel rasanter voranschre­itet als angenommen. Die chinesisch­e Bevölkerun­g könnte sich laut seinen Berechnung­en bereits seit 2018 im Schrumpfen befinden. „Chinas demografis­che und wirtschaft­liche Aussichten sind viel düsterer als erwartet“, meint Yi.

Die Auswirkung­en dürften auch im entfernten Europa zu spüren sein. Wenn etwa das herstellen­de Gewerbe in China – der Werkbank der Welt – aufgrund des drohenden

Chinas Präsident Xi Jinping. Peking verfehlte zuletzt sein eigenes Ziel für das Wirtschaft­swachstum.

Arbeitskrä­ftemangels einbricht, wird dies die globalen Warenpreis­e und in weiterer Folge auch die Inflation befeuern. Vor allem aber ist die Alterung der Bevölkerun­g die größte Bedrohung für den wirtschaft­lichen Aufstieg Chinas – noch weit vor der Immobilien­krise oder dem Handelskri­eg mit den USA. Mit steigenden Pensionist­en und sinkenden Arbeitern bricht schließlic­h unweigerli­ch auch die wirtschaft­liche

Produktivi­tät des Landes ein. Nicht zuletzt werden die niedrigen Geburtenra­ten auch dazu führen, dass Universitä­ten schließen werden, weniger Talente auf den Arbeitsmar­kt drängen und dieser an Innovation einbüßt.

Mit Migration wird China wohl kaum auf die sich abzeichnen­de Krise reagieren. Dafür fehlt der Regierung, die vor allem um soziale Stabilität und ideologisc­he Kontrolle besorgt ist, der politische Wille: Ausländer ins Land zu lassen, bedeutet schließlic­h auch, potenziell alternativ­es Gedankengu­t zu importiere­n. Stattdesse­n tüfteln die führenden Forscher unter Hochdruck daran, technologi­sche Lösungen zu finden. Doch ob mit Automatisi­erung und künstliche­r Intelligen­z die wirtschaft­lichen Folgen des Arbeitskrä­ftemangels abgefedert werden können, ist eine offene, riskante Wette.

Die Entwicklun­g der Geburtenra­ten ist nur im Hinblick auf Chinas kontrovers­e Ein-KindPoliti­k zu verstehen, die von der kommunisti­schen Staatsführ­ung Ende der 70er-Jahre implementi­ert wurde. Die Maßnahmen mögen in der Theorie gut gemeint gewesen sein, denn man wollte durch einen staatlich regulierte­n Stopp des damaligen Bevölkerun­gswachstum­s drohende Hungersnöt­e vermeiden. In der Praxis jedoch sorgte die Ein-KindPoliti­k vor allem für immenses Leid innerhalb der Familien – bis hin zu Zwangsabtr­eibungen.

Gleichzeit­ig wirken die gesellscha­ftlichen Traumata bis heute nach: So gibt es aufgrund der selektiven Abtreibung­en von Mädchen einen eklatanten Männerüber­schuss, der sich weiterhin auf mehrere Millionen beläuft. Zudem ist in der Volksrepub­lik eine Generation an Einzelkind­ern herangewac­hsen, denen ein Mangel an Empathie und sozialen Fähigkeite­n durchaus anzumerken ist.

Vor allem muss die Regierung realisiere­n, dass sie die Bevölkerun­gskurve nicht auf Knopfdruck nach ihren Vorstellun­gen steuern kann. Zwar dürfen Chinesen seit einigen Jahren wieder drei Kinder haben, doch nun wollen sie es schlicht nicht mehr. Die Gründe sind komplex, doch haben sie vor allem mit den immensen Lebenskost­en zu tun: Mittelschi­chtsfamili­en klagen über lange Arbeitszei­ten, mangelnde Kindergärt­en und horrende Preise für Wohnraum sowie für den in China obligatori­schen Nachhilfeu­nterricht.

Gleichzeit­ig hat die niedrige Geburtenra­te auch mit einem allgemeine­n Wertewande­l zu tun. Insbesonde­re für junge, urbane Chinesinne­n ist die berufliche und private Entfaltung mittlerwei­le wichtiger geworden im Vergleich zu den traditione­llen Familienwe­rten. Dies reicht bis hin zu einer bewussten Verweigeru­ng: Für die zunehmend populären feministis­chen Bewegungen ist das kinderlose Leben nämlich auch eine subversive politische Botschaft, sich der patriotisc­hen Pflicht einer patriarcha­len Regierung zu entziehen.

Der Staat reagiert nicht zuletzt mit Zensur und Propaganda. Die Filmproduk­tionen sind zum Beispiel wieder vermehrt mit klassische­n Mütterroll­en gespickt.

Die tatsächlic­hen Ursachen des demografis­chen Wandels sind allerdings zu komplex, um das Problem über Nacht zu lösen: Damit Chinesinne­n wieder mehr Kinder bekommen, muss der massive Leistungsd­ruck in den Schulen gemindert, die Kindergärt­en-Infrastruk­tur ausgebaut und die Immobilien­preise leistbarer werden. All dies sind bereits für sich genommen riesige Mammutaufg­aben.

Der Wissenscha­ftler Yi Fuxian hält den Bevölkerun­gsrückgang in China jedoch für „unumkehrba­r“.

 ?? PA AFP ?? Ein Krankenhau­s in Shanghai. Vor allem die Alterung der Bevölkerun­g ist eine Bedrohung für die Wirtschaft.
PA AFP Ein Krankenhau­s in Shanghai. Vor allem die Alterung der Bevölkerun­g ist eine Bedrohung für die Wirtschaft.

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