Thüringische Landeszeitung (Jena)
Pistorius in der Panzerschlacht
Bei den Waffenlieferungen an die Ukraine wächst der Druck auf die Bundesregierung und ihren neuen Minister
Berlin. Die Kameras klicken, ihre Blitze strahlen. Boris Pistorius und Lloyd Austin an. „Good?“, fragt Austin die Fotografen bestimmt, dann verlassen die beiden Verteidigungsminister den Raum. Nur wenige Minuten hat das Statement des erst kurz zuvor vereidigten deutschen Amtsinhabers und seines Gastes aus den USA gedauert. Fragen sind keine zugelassen. Deutlich ist dennoch geworden: Zu besprechen gibt es viel. Etwa, ob die beiden Länder die Ukraine mit ihren modernsten Kampfpanzern ausrüsten wollen, dem Leopard.
Boris Pistorius hat so wenig Zeit zum Ankommen wie kein anderer Minister, und zugleich sitzt er auf einem der schwersten Posten in dieser Zeit, in diesem Kabinett. Sein Kaltstart fällt mitten in eine große politische Schlacht um die Lieferung schwerer Kriegsgeräte in die Ukraine, allen voran deutsche Panzer. Es geht auch um die Glaubwürdigkeit von Pistorius’ Chef: Olaf Scholz. Pistorius hat einen vollen ersten Tag: Am Morgen bekommt der bisherige Landesinnenminister von Niedersachsen Pistorius im Schloss Bellevue seine Ernennungsurkunde von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Für sein neues Amt wünscht das Staatsoberhaupt „einen kühlen Kopf, gute Nerven, Führungsstärke“und eine „klare Sprache“.
Auf Gottes Beistand verzichtet Pistorius für die große Aufgabe – zumindest bei der anschließenden Vereidigung im Bundestag. Als Parlamentspräsidentin Bärbel Bas ihrem Parteifreund den Amtseid abnimmt, lässt der 62-Jährige den religiösen Zusatz weg: „So wahr mir Gott helfe.“Stattdessen greift Pistorius kurz nach dem Auftritt zum Telefon. Er ruft seinen französischen Amtskollegen Sébastien Lecornu an. Pistorius telefoniert auch mit dem mächtigen Chef des Bundeswehrverbands, getroffen hat er noch vor Amtsantritt Eva Högl, die Wehrbeauftragte, und Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die einflussreiche Vorsitzende des Verteidigungsausschusses.
Man kann Pistorius nicht vorwerfen, er würde erst mal gemütlich im Amt eintrudeln. Und doch: Eine Entscheidung über die Lieferung von deutschen Kampfpanzern an die Ukraine fiel auch in den ersten Stunden seiner Amtszeit nicht. Der Blick geht in Richtung Kanzler Scholz, in Richtung Ramstein, dem Militärstützpunkt im Südwesten
Deutschlands, an dem an diesem Freitag ein weiteres Treffen der Amerikaner mit anderen Verbündeten der Ukraine stattfindet.
Derweil erhöhen Meldungen den Druck auf Pistorius und Scholz: Schweden will Schützenpanzer Typ CV 90 und das Artilleriesystem Archer an die Ukraine liefern, Frankreich schickt leichte Kampfpanzer vom Typ AMX-10 RC, Großbritannien 600 weitere Lenkraketen Brimstone. Deutschland hat zugesagt, Marder-Schützenpanzer und Patriot-Flugabwehrraketen an die Ukraine zu liefern. Aber Kampfpanzer? Die Ukraine will unbedingt den Leopard aus deutscher Produktion, er gilt als hochmodern, schnell und effektiv. Gerade um Gelände gegen die russische Armee zurückzugewinnen, kann das Waffensystem enorm wichtig sein. Doch seit Wochen kämpft die Bundesregierung eine Abwehrschlacht gegen den Druck von außen. Scholz bleibt auch kurz vor dem Gipfel in Ramstein nach Informationen unserer Redaktion seiner Linie treu: vorsichtige Politik, keine „Alleingänge“, alles „in Absprache mit NatoPartnern“– und nicht ohne Lieferungen von vergleichbarem Kriegsgerät durch die Amerikaner. Scholz spielt offenbar weiter auf Zeit. Und
die USA liefern vorerst keine Abrams-Kampfpanzer.
Anders: Polen, Dänemark, Spanien und Finnland. Sie sind zur Lieferung der Leos bereit, brauchen dafür aber die Genehmigung der Bundesregierung. Scholz muss die sogenannte Endverbleibserklärung auflösen, mit der sich Staaten vertraglich verpflichtet haben, deutsche Rüstung nicht einfach weiterzugeben in andere Länder. Insgesamt
sollen in zwölf Nato-Staaten wie Polen und Spanien rund 2000 Leopard-Panzer deutscher Produktion in den Lagern stehen. Allerdings: Es ist völlig unklar, wie viele dieser Panzer tatsächlich einsatzbereit sind. Fachleute sagen unserer Redaktion: nur ein Bruchteil.
Es ist ein großes Panzer-Dilemma der deutschen und europäischen Verteidigungspolitik, die all die Jahre nach dem Ende des Kalten Krie
ges vor allem eine Richtung kannte: abrüsten, einsparen, verkaufen. Doch eine Rüstungsindustrie lässt sich nicht hochfahren wie eine Tur- bine im Wasserkraftwerk. Sobald die eine Ausfuhrgenehmigung der Bundesregierung für Kampfpanzer aus Staaten wie Polen und Spanien vorliege, sei es zweckmäßig, diese Leoparden „nicht nur wieder ein- satzbereit machen zu lassen, son- dern auch auf einen gemeinsamen Rüststand zu bringen“, sagt Kurt Braatz unserer Redaktion. Er ist Leiter Gesamtkommunikation des Panzerbauers KNDS mit Sitz in Amsterdam, zu der auch der deut- sche Rüstungshersteller Krauss- Maffei Wegmann (KMW) gehört. KMW baut den Leopard. Der „Rüststand“ist relevant. Denn ob- wohl die verstreuten Reserven an Leopard-Panzern fast durchweg vom Typ A4 seien, sind sie doch ganz unterschiedlich gebaut. „In Finnland müssen sie winterfest sein, in Spanien enorm hitzeresistent“, sagt Braatz. Zudem ist der Zustand der Panzer ganz unterschiedlich, viele lagerten jahrelang in Hallen, sind defekt oder brauchen dringend Ersatzteile. Alles potenzielle Aufträge für die Rüstungsindustrie. Doch einen Auftrag vonseiten der Regierung gibt es bisher nicht.