Thüringische Landeszeitung (Jena)
Wanderer durch Raum und Zeit
Hiroyuki Masuyama vergegenwärtigt sich und uns bei Rothamel in Erfurt die Vergangenheit
Nein, die Galerie Rothamel hat sich nicht plötzlich auf Reproduktionen romantischer Malerei verlegt. Sie ist immer noch ein Ort der zeitgenössischen Kunst, auch wenn wir dort nun, unter anderem, auf ziemlich bekannte Motive Caspar David Friedrichs stoßen. Doch zum Beispiel dieser „Wanderer über dem Nebelmeer“hier ist nicht 1818 entstanden, sondern erst 204 Jahre später. Der Maler und Konzeptkünstler Hiroyuki Masuyama hat ihn weder kopiert noch reproduziert, er hat ihn re-komponiert – und zwar aus hunderten Fotografien.
Wir konnten dieses Prinzip bereits vor fünf Jahren im Angermuseum studieren, nachdem Masuyama derart den Motiven William Turners durch Raum und Zeit sowie mit Stativ und Kamera hinterher gereist war. „Minima – Maxima. Ein Weg nach Italien“hieß die Schau. Und mit solchen Turner-Motiven bestritt Jörk Rothamel soeben eine Ausstellung am zweiten Standort der Galerie, in Frankfurt am Main. Im Osten, in Erfurt, funktioniert der Friedrich jedoch besser, glaubt er.
Hier treffen wir nun auch auf die „Dorflandschaft bei Morgenbeleuchtung“oder die „Abtei im Eichwald“. Anders als diese hätte es den „Wanderer“von Masuyamas Hand aber ohne den Galeristen kaum gegeben. Normalerweise verbietet der sich zwar, seinen Künstlern reinzureden. „Hier hat’s mich dann aber mal doch nicht gehalten.“Das Motiv fehlte ihm in der Friedrich-Serie.
Schon Caspar David Friedrich komponierte seine Bilder
Was Masuyama dafür lange fehlte: ein geeignetes Modell für jenen Mann, der uns im Elbsandsteingebirge den Rücken zukehrt und in die weite Landschaft blickt. Inzwischen hat er es allerdings gefunden.
Schon Friedrichs Original war eine Erfindung, eine Inszenierung der Sächsischen Schweiz: Er hatte sie hier aus Skizzen zusammengefügt und zur idealen Landschaft erhoben. Und sein „Watzmann“kam sogar ohne eigene Anschauung aus; er beruhte auf den Skizzen anderer.
Hiroyuki Masuyama, 1968 in Tsukuba geboren, jedoch seit mehr als einem Vierteljahrhundert in Düsseldorf
heimisch, verbindet seine Zeitreisen zu solchen Gemälden derweil gleichsam mit einer Art von Seelenwanderung: Er versucht, sich in einen Friedrich oder Turner ganz und gar hineinzuversetzen, zuletzt auch in Friedrich August de Leuw aus der Düsseldorfer Malerschule.
Man kann das eine rückwärtsgewandte Kunst nennen. Genauso gut lässt sich aber von einer Vergegenwärtigung des Vergangenen sprechen. Über zeitliche Distanzen hinweg kommen wir uns mitunter näher als mit jeder voreiligen Behauptung, stets brandaktuell zu sein.
Malerisch wirken Masuyamas fotografische Kompositionen indes, weil er sie vor LED-Leuchtkästen präsentiert. Ähnlich hatte schon Caspar David Friedrich gearbeitet, indem dieser Sohn eines Talgkerzengießers für Transparentgemälde Kerzenlicht hinterm Pergamentpapier schimmern ließ. Und ohnehin gilt er uns bis heute, wie ja Turner auch, als ein Maler des Lichts.
Masuyamas „Zeitsprung“, so der Titel der Erfurter Schau, nimmt sich jedoch auch noch ganz anders aus: indem er auf Bildern einen ganzen Jahreslauf beziehungsweise alle Jahreszeiten zugleich festhalten kann. So sehen wir ein unbeleuchtetes Panorama aus dem an 365 aufeinander folgenden Tagen identisch belichteten Benrather Forst: vom 1. Januar bis zum 31. Dezember 2021.
Alle vier Jahreszeiten zugleich auf einer Sumpfwiese vereint
Und eine Sumpfwiese nahe Düsseldorf, auf der zugleich Frühling, Sommer, Herbst und Winter herrschen, ist in Erfurt vor Leuchtstoffröhren zu besichtigen: sehr breit, und doch nur ausschnittweise. Die gesamte Arbeit, aus Masuyamas binnen dreizehn Jahren verfolgter „Flowers“-Serie gefügt, ist 35 Meter lang. Hier gibt es im selben Augenblick Frost und Frühblüher, Mohnblumen und abgeblühte Stellen.
„Hiroyuki Masuyama möchte eben immer gerne das Unmögliche wahr machen“, sagt sein Galerist Rothamel, der ihn seit 2016 betreut. „Der wacht morgens auf, hat plötzlich eine Idee im Kopf, denkt kurz darüber nach und arbeitet dann ein ganzes Jahr daran, sie umzusetzen.“
So war es auch zu „0“, jener begehbaren Kugel aus Kirschholz gekommen, die Masuyama baute und die damals im Angermuseum zu erleben war: versehen mit 30.000 Löchern in sieben verschiedenen Größen sowie mit Glasfaserstiften in jedem einzelnen davon. So simulierte er die Weiten des Weltalls; er wollte mal „schweben wie Major Tom“.
Und indem er eine alte Welt nur scheinbar nachbildet, erschafft er damit vielmehr eine ganze neue.
Hiroyuki Masuyama, „Zeitsprung“, bis 14. April 2023 in der Galerie Rothamel in Erfurt zu sehen: montags bis freitags von 10 bis 14 Uhr. www.rothamel.de