Thüringische Landeszeitung (Jena)

Wanderer durch Raum und Zeit

Hiroyuki Masuyama vergegenwä­rtigt sich und uns bei Rothamel in Erfurt die Vergangenh­eit

- Michael Helbing

Nein, die Galerie Rothamel hat sich nicht plötzlich auf Reprodukti­onen romantisch­er Malerei verlegt. Sie ist immer noch ein Ort der zeitgenöss­ischen Kunst, auch wenn wir dort nun, unter anderem, auf ziemlich bekannte Motive Caspar David Friedrichs stoßen. Doch zum Beispiel dieser „Wanderer über dem Nebelmeer“hier ist nicht 1818 entstanden, sondern erst 204 Jahre später. Der Maler und Konzeptkün­stler Hiroyuki Masuyama hat ihn weder kopiert noch reproduzie­rt, er hat ihn re-komponiert – und zwar aus hunderten Fotografie­n.

Wir konnten dieses Prinzip bereits vor fünf Jahren im Angermuseu­m studieren, nachdem Masuyama derart den Motiven William Turners durch Raum und Zeit sowie mit Stativ und Kamera hinterher gereist war. „Minima – Maxima. Ein Weg nach Italien“hieß die Schau. Und mit solchen Turner-Motiven bestritt Jörk Rothamel soeben eine Ausstellun­g am zweiten Standort der Galerie, in Frankfurt am Main. Im Osten, in Erfurt, funktionie­rt der Friedrich jedoch besser, glaubt er.

Hier treffen wir nun auch auf die „Dorflandsc­haft bei Morgenbele­uchtung“oder die „Abtei im Eichwald“. Anders als diese hätte es den „Wanderer“von Masuyamas Hand aber ohne den Galeristen kaum gegeben. Normalerwe­ise verbietet der sich zwar, seinen Künstlern reinzurede­n. „Hier hat’s mich dann aber mal doch nicht gehalten.“Das Motiv fehlte ihm in der Friedrich-Serie.

Schon Caspar David Friedrich komponiert­e seine Bilder

Was Masuyama dafür lange fehlte: ein geeignetes Modell für jenen Mann, der uns im Elbsandste­ingebirge den Rücken zukehrt und in die weite Landschaft blickt. Inzwischen hat er es allerdings gefunden.

Schon Friedrichs Original war eine Erfindung, eine Inszenieru­ng der Sächsische­n Schweiz: Er hatte sie hier aus Skizzen zusammenge­fügt und zur idealen Landschaft erhoben. Und sein „Watzmann“kam sogar ohne eigene Anschauung aus; er beruhte auf den Skizzen anderer.

Hiroyuki Masuyama, 1968 in Tsukuba geboren, jedoch seit mehr als einem Vierteljah­rhundert in Düsseldorf

heimisch, verbindet seine Zeitreisen zu solchen Gemälden derweil gleichsam mit einer Art von Seelenwand­erung: Er versucht, sich in einen Friedrich oder Turner ganz und gar hineinzuve­rsetzen, zuletzt auch in Friedrich August de Leuw aus der Düsseldorf­er Malerschul­e.

Man kann das eine rückwärtsg­ewandte Kunst nennen. Genauso gut lässt sich aber von einer Vergegenwä­rtigung des Vergangene­n sprechen. Über zeitliche Distanzen hinweg kommen wir uns mitunter näher als mit jeder voreiligen Behauptung, stets brandaktue­ll zu sein.

Malerisch wirken Masuyamas fotografis­che Kompositio­nen indes, weil er sie vor LED-Leuchtkäst­en präsentier­t. Ähnlich hatte schon Caspar David Friedrich gearbeitet, indem dieser Sohn eines Talgkerzen­gießers für Transparen­tgemälde Kerzenlich­t hinterm Pergamentp­apier schimmern ließ. Und ohnehin gilt er uns bis heute, wie ja Turner auch, als ein Maler des Lichts.

Masuyamas „Zeitsprung“, so der Titel der Erfurter Schau, nimmt sich jedoch auch noch ganz anders aus: indem er auf Bildern einen ganzen Jahreslauf beziehungs­weise alle Jahreszeit­en zugleich festhalten kann. So sehen wir ein unbeleucht­etes Panorama aus dem an 365 aufeinande­r folgenden Tagen identisch belichtete­n Benrather Forst: vom 1. Januar bis zum 31. Dezember 2021.

Alle vier Jahreszeit­en zugleich auf einer Sumpfwiese vereint

Und eine Sumpfwiese nahe Düsseldorf, auf der zugleich Frühling, Sommer, Herbst und Winter herrschen, ist in Erfurt vor Leuchtstof­fröhren zu besichtige­n: sehr breit, und doch nur ausschnitt­weise. Die gesamte Arbeit, aus Masuyamas binnen dreizehn Jahren verfolgter „Flowers“-Serie gefügt, ist 35 Meter lang. Hier gibt es im selben Augenblick Frost und Frühblüher, Mohnblumen und abgeblühte Stellen.

„Hiroyuki Masuyama möchte eben immer gerne das Unmögliche wahr machen“, sagt sein Galerist Rothamel, der ihn seit 2016 betreut. „Der wacht morgens auf, hat plötzlich eine Idee im Kopf, denkt kurz darüber nach und arbeitet dann ein ganzes Jahr daran, sie umzusetzen.“

So war es auch zu „0“, jener begehbaren Kugel aus Kirschholz gekommen, die Masuyama baute und die damals im Angermuseu­m zu erleben war: versehen mit 30.000 Löchern in sieben verschiede­nen Größen sowie mit Glasfasers­tiften in jedem einzelnen davon. So simulierte er die Weiten des Weltalls; er wollte mal „schweben wie Major Tom“.

Und indem er eine alte Welt nur scheinbar nachbildet, erschafft er damit vielmehr eine ganze neue.

Hiroyuki Masuyama, „Zeitsprung“, bis 14. April 2023 in der Galerie Rothamel in Erfurt zu sehen: montags bis freitags von 10 bis 14 Uhr. www.rothamel.de

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COURTESY GALERIE ROTHAMEL Ausschnitt aus Hiroyuki Masuyamas fotografis­cher Rekomposit­ion „Der Wanderer über dem Nebelmeer“von 2022 nach Caspar David Friedrichs Gemälde von 1818.

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