Thüringische Landeszeitung (Jena)
„Es war wie eine andere Welt“
Der Geraer Fotograf Jacob Queißner schildert seine Erlebnisse in Lützerath
Lützerath in NordrheinWestfalen (NRW) ist offiziell geräumt. Der Energiekonzern RWE will das Dorf abreißen, um Platz für den Kohleabbau zu schaffen. Zehntausende Menschen demonstrierten dagegen. Mittendrin war Fotograf und Reporter Jacob Queißner. Der aus Gera stammende 22-Jährige schildert seine Erlebnisse.
Wann genau waren Sie in Lützerath?
Ich bin mit einem anderen Geraer Fotografen am 8. Januar nach Lützerath gefahren. Am 11. Januar reisten wir wieder ab. Ich bin am 13. Januar mit einem Solibus von der Grünen Jugend aus Thüringen ein zweites Mal dorthin gefahren.
Was hat Sie dazu bewogen?
Betrachtet man das Gesamtausmaß der Sache, betrifft Lützerath die ganze Welt. Solche Ereignisse gibt es nicht alle Tage. Für mich als Fotografen war es spannend, das alles zu erleben und zu dokumentieren.
Sind Sie auch gefahren, weil Sie sich mit der Protestbewegung identifizieren?
Als Journalist versuche ich, so neutral wie möglich an Themen ranzugehen. Das ist mir hier schwergefallen. Man lernt nette Menschen und deren Welt kennen und am nächsten Tag wird alles weggerissen. Außerdem ist es ja im Grunde auch meine Zukunft, die da weggebaggert wird. Aber an Aktionen habe ich mich nicht beteiligt. Ich habe nur fotografiert und mit den Menschen geredet.
Sie haben im Camp übernachtet. Wie war es?
Im Dorf und im Camp war alles super durchorganisiert. Es gab verschiedene Möglichkeiten zu übernachten – in Häusern, ehemaligen Scheunen und Zelten. Im Camp war es kalt, windig und regnete die ganze Zeit. Nach einer schlaflosen Nacht entschieden wir uns an Tag zwei, in einer Pension zu übernachten, und am dritten Tag in einem Haus. Trotz des ganzen Matsches und des ungemütlichen Wetters waren alle dort recht guter Dinge.
Sie sind in Ihrer dritten Nacht von der Polizei durch die Räumung geweckt worden. Was ist genau passiert?
Via Funk kam der sogenannte mittlere Alarm. Das heißt, Polizei ist im Anmarsch. Keine zehn Minuten später hörten wir eine Sirene, und der Großalarm startete. Sofort packten wir und bewegten uns zum
Dorfeingang, wo die Polizisten bereits den sogenannten „äußeren Verteidigungsring“durchbrochen hatten.
Was haben Sie an den ersten drei Tagen vor Ort gemacht?
Bei jedem Durchgang veränderte sich das Bild von Lützerath. Die Menschen errichteten Barrieren, bauten und bastelten. Wir kamen mit vielen ins Gespräch. Zwischendurch gab es kleine Scharmützel mit der Polizei. Die Polizei rückte an der Straße immer weiter vor. Die Aktivisten versuchten, sie mit Sitzblockaden, Menschenketten, Barrieren und anderen Aktionen aufzuhalten. Dort beobachteten wir erstmals Gewalt, die hauptsächlich von der Polizei ausging. Am dritten Tag war Räumung. Wir versuchten, alles zu fotografieren und dokumentieren. Zum einen, weil das Ganze spannend war, aber zum anderen, weil es keine Kontrollinstanzen für die Beamten vor Ort gab. Überall war deshalb Presse, die teils von den Polizisten zurückgedrängt wurde.
Wie war es, inmitten einer so großen Protestbewegung zu sein?
Ehrlich gesagt, finde ich es schade, dass das Dorf nicht mehr existiert. Es war wie eine andere Welt, eine Utopie, eine andere Gesellschaft. Alle sind füreinander da. Jeder wird gebraucht. Aber niemand wird ausgenutzt. Es wurde sich um alles gekümmert. Alle waren durchweg motiviert. Es war Wahnsinn, was die Leute auf sich nahmen. Einmal hatte sich eine Frau an den Bauzaun geklebt. Ich weiß nicht, wie lange sie dort ausharrte, sie schien zunächst bewusstlos. Doch dann fing sie an „Lützi bleibt“zu singen, nachdem sie von der Polizei rausgeflext wurde. Generell waren Singen und Musizieren ein wichtiger Bestandteil des Protestes. Auf einer der letzten Barrieren stand ein Klavier, auf dem bis zum Ende gespielt wurde.
Sie sind am 13. Januar erneut gefahren. Warum?
Es war klar, dass noch etwas passiert. Außerdem wurde viel mobilisiert und es waren viele bekannte Aktivisten angekündigt. Tatsächlich sah ich aber vor Ort kaum jemanden davon, nicht einmal Greta Thunberg. Es waren einfach zu viele Menschen. Die Polizei sagt 10.000, die Veranstalter 35.000. Das Camp glich einem Sumpf. Es gab Wind, Regen und sogar Sturmböen. Kurz bevor der Demozug am geplanten Endpunkt ankam, überrannten Demonstrierende die ersten Polizeiposten. Die Masse strömte Richtung Lützerath, das mittlerweile mit Zäunen abgesperrt war. Die Beamten hatten durch die schwere Ausrüstung im Matsch keine Chance und sind reihenweise umgefallen.
In Gruppen mit Knüppeln und Geschrei rannte die Polizei auf die Demonstrierenden los, um Angst zu machen. Die Aktivisten verteidigten sich, indem sie Matsch schmissen und die Arme ausstreckten. Einzeln flog Pyrotechnik. Reichlich Pfefferspray kam zum Einsatz. In einer Situation beobachtete ich, wie ein Polizist zwei Demonstranten „pfeffern“wollte, aber durch den Wind eine Gruppe von Kollegen erwischte.
Generell war nicht erkennbar, welche Taktik die Polizei verfolgte. Erst gegen Abend wurde es weniger und die Demonstration ebbte ab, weil viele die Abreise antraten.