Thüringische Landeszeitung (Jena)

„Rechtsansp­ruch auf Bildungsze­it“

IG-Metall-Chef Jörg Hofmann über den Fachkräfte­mangel – und eine bezahlte Auszeit für Weiterbild­ung

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Jochen Gaugele, Tobias Kisling und Thorsten Knuf

Berlin. In Deutschlan­d fehlen überall Fachkräfte. Der Vorsitzend­e der Industrieg­ewerkschaf­t Metall, Jörg Hofmann, schlägt im Interview neue Wege vor, um den Mangel zu beheben. Und sagt, warum Deutschlan­d kein richtiges Einwanderu­ngsland ist.

Herr Hofmann, was ist wichtiger: die Ausbildung einheimisc­her oder die Zuwanderun­g ausländisc­her Fachkräfte?

Jörg Hofmann: Wir brauchen dreierlei: Wir müssen junge Menschen im dualen System oder an den Hochschule­n ausbilden. Wir müssen Arbeitnehm­er weiter qualifizie­ren, damit die Transforma­tion gelingt und sie eine sichere Perspektiv­e haben. Und wir brauchen Zuwanderun­g aus dem Ausland. Ohne wird es nicht gehen. Die demografis­che Kurve zeigt klar nach unten. Im Übrigen sollten wir die Debatte nicht auf Fachkräfte beschränke­n.

Sondern?

Wir haben in Deutschlan­d inzwischen einen riesigen Arbeitskrä­ftemangel – auch bei Tätigkeite­n, die nicht unbedingt eine spezielle Ausbildung erfordern. Denken Sie an Gastronomi­e, Logistik, einfache Dienstleis­tungen oder Helfertäti­gkeiten in der Industrie.

Wie viele Arbeitskrä­fte aus dem Ausland werden wir in den nächsten Jahren brauchen?

Fachleute gehen davon aus, dass wir bis 2030 pro Jahr eine Nettozuwan­derung von 400.000 Arbeitnehm­ern brauchen. Das erscheint mir plausibel. Vermutlich ist das sogar noch eine Schätzung am unteren Rand.

Ist Deutschlan­d vorbereite­t auf so viel Zuwanderun­g?

Nur bedingt. Schauen Sie sich an, was auf den Wohnungsmä­rkten los ist. Natürlich brauchen die Zugewander­ten auch Wohnraum. Aber der ist jetzt schon knapp. Das setzt sich fort bei der Kinderbetr­euung oder schulische­n Angeboten. Wir sind auch von der Mentalität her noch lange kein Einwanderu­ngsland, obwohl wir es dringend sein müssten. Da geht es auch um Dinge wie die rasche Erteilung eines Visums, die Anerkennun­g von Abschlüsse­n oder die Voraussetz­ungen für einen Familienna­chzug.

Sollten wir verstärkt um Arbeitskrä­fte aus anderen EU-Ländern werben?

Im Prinzip ja. In Europa herrscht Arbeitnehm­er-Freizügigk­eit. Aber der Umstand, dass wir unseren Fachkräfte­bedarf nicht mit Menschen aus anderen EU-Staaten decken können, unterstrei­cht, dass wir noch kein attraktive­s Zuwanderun­gsland

sind. Wir hatten zuletzt einen sinkenden Zuwanderun­gssaldo mit der übrigen EU.

Woher sollen die Leute kommen, die wir brauchen?

Aus Europa jenseits der EU und allen anderen Winkeln der Welt.

Unabhängig von der kulturelle­n und religiösen Prägung?

Die religiöse Prägung ist längst nicht mehr entscheide­nd. Und die kulturelle Vielfalt hat unser Land durchaus auch bereichert.

Arbeitsmin­ister Hubertus Heil will neue Möglichkei­ten für Weiterbild­ung schaffen. Nach dem Vorbild Österreich­s soll es bezahlte Bildungsze­it geben. Unterstütz­en Sie das?

In unseren Metall-Tarifvertr­ägen haben wir einen Anspruch des Arbeitnehm­ers auf Bildungste­ilzeit vereinbart – als Zeitanspru­ch. Aber das muss man sich eben auch leisten können, und das ist bislang das Problem. Deshalb begrüßen wir im Grundsatz das Vorhaben des Arbeitsmin­isters. Die Weiterbild­ung und die Chance auf eine zweite Berufsausb­ildung ist angesichts der Transforma­tion ein extrem wichtiges Thema für die Beschäftig­ten und die Betriebe, damit genügend Fachkräfte für Digitalisi­erung, Mobilitäts- und Energiewen­de bereitsteh­en. Um eine Formulieru­ng des Kanzlers aufzugreif­en: Die Weiterbild­ung ist der zentrale Wumms für den Wandel.

Gehen Heils Pläne weit genug?

Er sollte noch mutiger sein. Geplant ist, dass Beschäftig­te maximal ein Jahr eine Auszeit für Aus- oder Weiterbild­ung nehmen können – sofern der Chef zustimmt. Das reicht nicht, viele Spezialist­en von heute werden im Grunde einen neuen Beruf lernen müssen. Die Obergrenze für die Weiterbild­ungsauszei­t sollte zwei Jahre betragen, eher noch mehr. Das gilt auch für das gleichfall­s angefachte Qualifizie­rungsgeld. Beide Instrument­e müssen auch einen Berufswech­sel ohne Qualifikat­ionsverlus­t ermögliche­n.

Ist es in Ordnung, dass der Chef der Weiterbild­ung zustimmen muss?

Wir brauchen auch einen Rechtsansp­ruch des Arbeitnehm­ers auf Bildungsze­it. Das lässt sich mit entspreche­nden Antragsfri­sten in den Betrieben auch organisier­en. Dafür haben wir Tarifvertr­äge, dafür soll es das neue Qualifizie­rungsgeld geben, das auf konkrete Vereinbaru­ngen der Betriebs- und Tarifvertr­agsparteie­n baut. Arbeitgebe­r sollten verpflicht­et werden, Personallü­cken, die durch staatlich geförderte Weiterbild­ung entstehen, mit Nachwuchsk­räften zu füllen. Es reicht auch nicht, dass Arbeitnehm­er in Weiterbild­ung von der Bundesagen­tur nur Unterstütz­ung in Höhe des Arbeitslos­engeldes bekommen sollen. Das muss aufgestock­t werden.

Wer soll das bezahlen?

Klar ist, dass wir die Kosten nicht allein der Bundesagen­tur für Arbeit aufbürden können. Wir haben jetzt 170 Milliarden Euro im Klima- und Transforma­tionsfonds für den klimaneutr­alen Umbau der Volkswirts­chaft. Es kann nicht sein, dass dieser Fonds die Transforma­tion von Geschäftsm­odellen und Prozessen fördert, die Träger und Treiber der Transforma­tion, die Beschäftig­ten, aber außen vor bleiben. Aus dem Fonds sollten bis 2030 mindestens 20 Milliarden Euro in die Qualifizie­rung der Arbeitnehm­er fließen. Denn fehlende Fachkräfte sind die größte Bremse eines schnellen Wandels.

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RETO KLAR / FUNKE FOTO SERVICES „Wir brauchen Zuwanderun­g aus dem Ausland“, sagt IG-MetallChef Jörg Hofmann beim Besuch in unserer Berliner Redaktion.

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