Thüringische Landeszeitung (Jena)
Holocaust- Gedenken auf Tiktok
KZ-Erinnerungsstätten wollen mehr Jugendliche erreichen – auch über Social Media
Es ist ein nasskalter Nachmittag in Buchenwald. Trotzdem haben sich etliche junge Besucher vor der örtlichen Jugendbegegnungsstätte eingefunden. Für Holger Obbarius ist das kein ungewöhnliches Bild. „Wir haben nicht den Eindruck, dass das Interesse an der NS-Vergangenheit unter jungen Menschen nachlässt“, sagt der Leiter der Bildungsabteilung in der KZGedenkstätte Buchenwald. Im Gegenteil: Mindestens zwölf Monate müssen Gäste hier aktuell auf einen Termin warten, wenn sie an Führungen oder anderen pädagogischen Angeboten teilnehmen möchten. Neulich buchte jemand sogar schon für 2028.
Die Auseinandersetzung mit dem finstersten Kapitel deutscher Geschichte ist unter den 16- bis 25-Jährigen stark präsent. Das ergeben Studien immer wieder. Gleichzeitig mangele es der sogenannten „Generation Z“mitunter an historischem Wissen. Um diese Altersgruppe anzusprechen, setzen viele KZ-Gedenkstätten längst auf moderne Medien. Facebook und Twitter sind oft ein alter Hut, Telegram und vor allem die Videoplattform Tiktok das Gebot der Stunde. Letztere will mit einer Initiative Gedenkstätten ermutigen, digitale Medien in ihre Arbeit einzubinden. „Es ist eine große Verantwortung, die wir alle haben. Und wir nehmen sie ernst“, sagt Tiktoks Deutschland-Chef Tobias Henning anlässlich des internationalen Gedenktags für die Opfer des Holocaust.
In Neuengamme wird die Initiative bereits umgesetzt. 2021 eröffnete die Gedenkstätte des Konzentrationslagers, in dem rund 100.000 Menschen in der NS-Zeit inhaftiert waren und mehr als 40.000 Häftlinge ums Leben kamen, einen TiktokKanal. Damit wurde die KZ-Gedenkstätte bundesweit zum Vorreiter. Kurz bevor der Kanal online ging, hatte eine „Holocaust-Challenge“auf Tiktok für Schlagzeilen gesorgt, weil Nutzer in eigenen Clips NS-Opfer verkörpert hatten. Solchen Phänomenen müssten die Gedenkstätten mit eigenen Inhalten
entgegentreten, sagt die Historikerin Iris Groschek, die den Kanal betreut. „Wir möchten über Tiktok die jungen Menschen erreichen, die wir auf anderen Wegen vielleicht nicht erreichen.“Die HolocaustGedenkstätte präsentiert ihre Themen in oft nur 30 Sekunden langen Videoclips: Das Echo war sofort riesig – auch medial.
Auschwitz hat 1,5 Millionen Follower auf Twitter
Klar, meint Groschek, Social Media funktioniere nach jeweils eigenen Gesetzen und sei für erinnerungskulturelle Zwecke nicht ohne Weiteres nutzbar. Prinzipiell sollten Auftritte dort, genau wie jene auf Facebook, Twitter und Instagram, „nichts ersetzen“. Die Grenze liege außerdem da, wo die Angemessenheit oder die historische Korrektheit der Videos fraglich sei. Entsprechend viel Zeit stecke in den Videos, die Freiwillige produzieren.
Insbesondere Tiktok stehen nicht alle Gedenkstätten so offen gegenüber wie Neuengamme. Die Algorithmen der Plattform bevorzugen polarisierende Inhalte, sagt Paweł Sawicki, Social-Media-Beauftragter der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. „Stand heute“sei daher Twitter für ihn das wichtigste Netzwerk: Für 1,5 Millionen Follower postet die Gedenkstätte etwa Kurzbiografien und Fotos von NS-Opfern, alle zwei Stunden, jeden Tag. Social Media richtig zu nutzen, sei „ziemlich herausfordernd“, sagt Sawicki. Denn man müsse sich der Kürze der Botschaften anpassen – und dennoch seriös bleiben.
In Buchenwald beurteilt Holger Obbarius die ganze Sache noch ein bisschen skeptischer. Hintergrund: Tiktok hatte in der Vergangenheit bestätigt, dass man zum Beispiel Kommentare mit Begriffen wie „queer“und „schwul“automatisch ausfiltere. „Kann eine so wertebasierte Institution wie unsere auf so einer Plattform präsent sein“?
Grundsätzliche Offenheit, gepaart mit profunder Skepsis. So blickt Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, auf die Holocaust-Erinnerung via Social Media. „Als Ergänzung,
nicht als Ersatz zum Besuch eines authentischen Ortes“sei sie sinnvoll, sagt er unserer Redaktion. „Werden Kanäle nicht professionell betreut, sind sie Einfallstore für Revisionisten, Verschwörungserzähler und Hatespeech“, so Schuster, der einen „generellen Wandel in der Erinnerungskultur“diagnostiziert.
Als „notwendigen neuen Weg“bezeichnet der Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees, Christoph Heubner, digitale Medien gegenüber dieser Zeitung. Zugleich warnt er vor „Distanzlosigkeit“und möchte die schulische Bildung gestärkt wissen. Und Felix Klein, der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung, erklärt: „Ich stehe allen Bemühungen, die Erinnerungskultur in empathischer Weise auf neuen Medien und mit neuen Methoden zu präsentieren, sehr positiv gegenüber. Was Tiktok speziell angeht, bin ich etwas gespaltener Meinung, glaube aber, dass die Vorteile überwiegen.“
Ob persönlich oder im Internet: Wichtig sei, den Interessierten verlässliche Quellen anzubieten, meint Holger Obbarius von der Gedenkstätte Buchenwald. Historikerin Iris Groschek ergänzt: „Wir haben jede Menge Ideen, was man auf Social Media noch machen kann“. Kooperationen mit Zeitzeugen seien ein Beispiel. Zumal auch von ihnen längst einige auf Tiktok aktiv sind.