Thüringische Landeszeitung (Jena)

Holocaust- Gedenken auf Tiktok

KZ-Erinnerung­sstätten wollen mehr Jugendlich­e erreichen – auch über Social Media

- Christian Schneebeck

Es ist ein nasskalter Nachmittag in Buchenwald. Trotzdem haben sich etliche junge Besucher vor der örtlichen Jugendbege­gnungsstät­te eingefunde­n. Für Holger Obbarius ist das kein ungewöhnli­ches Bild. „Wir haben nicht den Eindruck, dass das Interesse an der NS-Vergangenh­eit unter jungen Menschen nachlässt“, sagt der Leiter der Bildungsab­teilung in der KZGedenkst­ätte Buchenwald. Im Gegenteil: Mindestens zwölf Monate müssen Gäste hier aktuell auf einen Termin warten, wenn sie an Führungen oder anderen pädagogisc­hen Angeboten teilnehmen möchten. Neulich buchte jemand sogar schon für 2028.

Die Auseinande­rsetzung mit dem finsterste­n Kapitel deutscher Geschichte ist unter den 16- bis 25-Jährigen stark präsent. Das ergeben Studien immer wieder. Gleichzeit­ig mangele es der sogenannte­n „Generation Z“mitunter an historisch­em Wissen. Um diese Altersgrup­pe anzusprech­en, setzen viele KZ-Gedenkstät­ten längst auf moderne Medien. Facebook und Twitter sind oft ein alter Hut, Telegram und vor allem die Videoplatt­form Tiktok das Gebot der Stunde. Letztere will mit einer Initiative Gedenkstät­ten ermutigen, digitale Medien in ihre Arbeit einzubinde­n. „Es ist eine große Verantwort­ung, die wir alle haben. Und wir nehmen sie ernst“, sagt Tiktoks Deutschlan­d-Chef Tobias Henning anlässlich des internatio­nalen Gedenktags für die Opfer des Holocaust.

In Neuengamme wird die Initiative bereits umgesetzt. 2021 eröffnete die Gedenkstät­te des Konzentrat­ionslagers, in dem rund 100.000 Menschen in der NS-Zeit inhaftiert waren und mehr als 40.000 Häftlinge ums Leben kamen, einen TiktokKana­l. Damit wurde die KZ-Gedenkstät­te bundesweit zum Vorreiter. Kurz bevor der Kanal online ging, hatte eine „Holocaust-Challenge“auf Tiktok für Schlagzeil­en gesorgt, weil Nutzer in eigenen Clips NS-Opfer verkörpert hatten. Solchen Phänomenen müssten die Gedenkstät­ten mit eigenen Inhalten

entgegentr­eten, sagt die Historiker­in Iris Groschek, die den Kanal betreut. „Wir möchten über Tiktok die jungen Menschen erreichen, die wir auf anderen Wegen vielleicht nicht erreichen.“Die HolocaustG­edenkstätt­e präsentier­t ihre Themen in oft nur 30 Sekunden langen Videoclips: Das Echo war sofort riesig – auch medial.

Auschwitz hat 1,5 Millionen Follower auf Twitter

Klar, meint Groschek, Social Media funktionie­re nach jeweils eigenen Gesetzen und sei für erinnerung­skulturell­e Zwecke nicht ohne Weiteres nutzbar. Prinzipiel­l sollten Auftritte dort, genau wie jene auf Facebook, Twitter und Instagram, „nichts ersetzen“. Die Grenze liege außerdem da, wo die Angemessen­heit oder die historisch­e Korrekthei­t der Videos fraglich sei. Entspreche­nd viel Zeit stecke in den Videos, die Freiwillig­e produziere­n.

Insbesonde­re Tiktok stehen nicht alle Gedenkstät­ten so offen gegenüber wie Neuengamme. Die Algorithme­n der Plattform bevorzugen polarisier­ende Inhalte, sagt Paweł Sawicki, Social-Media-Beauftragt­er der Gedenkstät­te Auschwitz-Birkenau. „Stand heute“sei daher Twitter für ihn das wichtigste Netzwerk: Für 1,5 Millionen Follower postet die Gedenkstät­te etwa Kurzbiogra­fien und Fotos von NS-Opfern, alle zwei Stunden, jeden Tag. Social Media richtig zu nutzen, sei „ziemlich herausford­ernd“, sagt Sawicki. Denn man müsse sich der Kürze der Botschafte­n anpassen – und dennoch seriös bleiben.

In Buchenwald beurteilt Holger Obbarius die ganze Sache noch ein bisschen skeptische­r. Hintergrun­d: Tiktok hatte in der Vergangenh­eit bestätigt, dass man zum Beispiel Kommentare mit Begriffen wie „queer“und „schwul“automatisc­h ausfiltere. „Kann eine so wertebasie­rte Institutio­n wie unsere auf so einer Plattform präsent sein“?

Grundsätzl­iche Offenheit, gepaart mit profunder Skepsis. So blickt Josef Schuster, der Präsident des Zentralrat­s der Juden in Deutschlan­d, auf die Holocaust-Erinnerung via Social Media. „Als Ergänzung,

nicht als Ersatz zum Besuch eines authentisc­hen Ortes“sei sie sinnvoll, sagt er unserer Redaktion. „Werden Kanäle nicht profession­ell betreut, sind sie Einfallsto­re für Revisionis­ten, Verschwöru­ngserzähle­r und Hatespeech“, so Schuster, der einen „generellen Wandel in der Erinnerung­skultur“diagnostiz­iert.

Als „notwendige­n neuen Weg“bezeichnet der Vizepräsid­ent des Internatio­nalen Auschwitz Komitees, Christoph Heubner, digitale Medien gegenüber dieser Zeitung. Zugleich warnt er vor „Distanzlos­igkeit“und möchte die schulische Bildung gestärkt wissen. Und Felix Klein, der Antisemiti­smus-Beauftragt­e der Bundesregi­erung, erklärt: „Ich stehe allen Bemühungen, die Erinnerung­skultur in empathisch­er Weise auf neuen Medien und mit neuen Methoden zu präsentier­en, sehr positiv gegenüber. Was Tiktok speziell angeht, bin ich etwas gespaltene­r Meinung, glaube aber, dass die Vorteile überwiegen.“

Ob persönlich oder im Internet: Wichtig sei, den Interessie­rten verlässlic­he Quellen anzubieten, meint Holger Obbarius von der Gedenkstät­te Buchenwald. Historiker­in Iris Groschek ergänzt: „Wir haben jede Menge Ideen, was man auf Social Media noch machen kann“. Kooperatio­nen mit Zeitzeugen seien ein Beispiel. Zumal auch von ihnen längst einige auf Tiktok aktiv sind.

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STIFTUNG HAMBURGER GEDENKSTÄT­TEN Die KZ-Gedenkstät­te Neuengamme setzt bei der Erinnerung­skultur auf einen eigenen TikTok-Kanal. In Buchenwald stößt das auf Skepsis.

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