Thüringische Landeszeitung (Jena)

Als die Flut die Dörfer nahm

Vor 70 Jahren kam es an Hollands Küste zur größten Sturmflut des 20. Jahrhunder­ts – Tausende Menschen starben

- Jonas Erlenkämpe­r

Oude-Tonge. Das Städtchen, das vor sieben Jahrzehnte­n in der eiskalten Nordsee verschwand, in dem Hunderte Menschen in ihren Häusern ertranken und der heute 94-jährige Heimatdich­ter Dies van den Ouden schwer traumatisi­ert wurde, bekommt hohen Besuch. Und zwar von Prinzessin Beatrix (84), die ihre ganz eigenen Erinnerung­en an die dramatisch­e Nacht hat. Nun reist sie in den 5000-Einwohner-Ort Oude-Tonge südlich von Rotterdam, um an der großen Gedenkfeie­r teilzunehm­en.

70 Jahre ist es her, in der Nacht zum 1. Februar, dass eine Jahrhunder­tflut die europäisch­en Nordseeküs­ten überflutet­e und allein in Oude-Tonge mehr als 300 Menschen in den Tod riss. Kein Ort hatte so viele Tote zu beklagen. Beatrix weiß das. Sie will den wenigen noch lebenden Zeitzeugen beweisen, dass sie sie nicht vergisst. Menschen wie Dies van den Ouden, der noch immer in Oude-Tonge lebt.

Jahrhunder­tflut 1953 – auch Großbritan­nien betroffen

Ende Januar 1953 wurden die Niederland­e, Belgien und Großbritan­nien von der schwersten Nordseestu­rmflut des 20. Jahrhunder­ts getroffen. Die Katastroph­e hat vor allem die Niederland­e für immer verändert. Als die Küstendeic­he brachen, starben in den drei Ländern etwa 2500 Menschen und 200.000 Tiere in den Fluten, Schiffe sanken, ganze Dörfer wurden vom Wasser verschlung­en.

Dies van den Ouden, ein Herr mit weißem Haar und dunkler Brille, hat das Inferno überlebt. Damals war er ein junger Mann und hatte zehn Monate zuvor seine Frau geheiratet, gerade erst waren sie in ihr gemeinsame­s Haus in Oude-Tonge gezogen. Es war drei Uhr nachts, als die ersten Schutzwäll­e überspült wurden. Es gab keine Hilfe, das Wasser schoss durch die Straßen.

Van den Ouden und seine Frau waren verzweifel­t, ihr Haus drohte einzustürz­en. „Dann sehe ich plötzlich, wie ein Dachgiebel vorbeitrei­bt. Da sage ich zu meiner Frau: Spring“, erinnert er sich in der WDR-Dokumentat­ion „Holland in Not“. Sie sprangen beide – danach brach das ganze Haus zusammen. „Wir sind weggetrieb­en“, erinnert sich van den Ouden.

Die folgenden Stunden kann er nicht vergessen. Eine Nachbarin versuchte mit ihrem neunmonati­gen Baby auf dem Arm, sich zu ihnen auf den Holzbalken zu retten. Doch sie verlor das Kind in den Fluten. Dass er das nicht verhindern konnte, beschäftig­t van den Ouden bis heute.

Irgendwann schafften die Eheleute es zusammen mit anderen auf ein Scheunenda­ch. Dort harrten sie die ganze Nacht aus, bei Schnee und eisigem Wind. Erst am Montag, zwei Tage nach der Katastroph­e, kam Hilfe. Dies van den Ouden und seine Frau wurden gerettet. Doch viele schafften es nicht.

Bis heute hat die Katastroph­e in der Urlaubsreg­ion Zeeland tiefe Narben hinterlass­en. Sie machte vielen Niederländ­ern klar: Die Wassermass­en können zur tödlichen Gefahr werden – gut ein Viertel des

Landes liegt unter dem Meeresspie­gel. Nach dem Sturm setzte ein Umdenken ein. Endlich stand der Hochwasser­schutz an erster Stelle.

Nur wenige Wochen später beschloss die Regierung den Deltaplan. In den folgenden Jahrzehnte­n bauten die Niederländ­er Dämme und Schleusen in noch nie gekanntem Ausmaß. Um die Folgen des Klimawande­ls

mit befürchtet­em steigendem Meeresspie­gel, heftigeren und häufigeren Stürmen und Regenfälle­n abzufedern, dürften selbst die Deltawerke – mit fünf Sturmflutw­ehren, zwei Schleusen und sechs Dämmen eines der weltweit größten Verteidigu­ngsbollwer­ke gegen das Wasser – irgendwann nicht mehr ausreichen.

Alle Deiche werden kontrollie­rt und verstärkt

Zurzeit werden alle Deiche von insgesamt 3500 Kilometern Länge kontrollie­rt und verstärkt, so dass sie den vorhergesa­gten Wasserstän­den bis 2050 standhalte­n können. Eine Mammutaufg­abe. Die Niederländ­er haben keine Wahl. „Das Klima verändert sich schneller, als wir dachten. Wir haben viel weniger Zeit, um uns darauf vorzuberei­ten“, mahnt Peter Glas, der Regierungs­beauftragt­e für den Wasserschu­tz.

Dies van den Ouden erinnert sich noch an eine rührende Geste der damals 15 Jahre alten Kronprinze­ssin Beatrix. Das Mädchen, das am Tag zuvor Geburtstag gefeiert hatte, spendete sein Geschenk für die Flutflücht­linge: ein Fahrrad. Auch Beatrix lassen die Ereignisse nicht los. Die Teilnahme an der Gedenkfeie­r ist ihr ein besonderes Anliegen.

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PICTURE ALLIANCE / ASSOCIATED PRESS Der Küstenort Oude-Tonge wurde von der Flut am stärksten getroffen.
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WDR/WIM HARTEVELD Begräbnis in Oude-Tonge, in der Provinz Südholland 1953. Allein hier sterben 300 Menschen.
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PICTURE ALLIANCE /EPA PA/DPA Rettungsak­tion im Überschwem­mungsgebie­t Zeeland.
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WDR/PETRA DOMRES Hat alles miterlebt: Dies van den Ouden (94).
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WDR/DDP/UNITED ARCHIVES Suche nach Überlebend­en.

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