Thüringische Landeszeitung (Jena)
Es geht darum, dass ein Kind überlebt
Sozialarbeiter sind aus Schulen nicht wegzudenken. Oft sparen die Kommunen bei ihnen
Der Satz, den Julia Beier* zum Ende des Gesprächs sagt, ist drastisch, aber er bringt es auf den Punkt: „Wir sind die letzte Instanz, die ein Kind anruft, bevor es womöglich von der Brücke springt.“Beier beschreibt damit kurz und knapp, welch wichtige Aufgabe Schulsozialarbeitern wie ihr zukommt. Sie sind oft Ansprechpartner und Vertrauensperson für Kinder und Jugendliche, die beispielsweise unter Mobbing oder Missbrauch leiden, suchtkranke oder gewalttätige Eltern haben oder vom Leistungsdruck überfordert sind – und die niemanden sonst wissen, an den sie sich in ihrer Not wenden könnten. Doch genauso bieten Schulsozialarbeiter Eltern und Lehrer Beratung und Hilfe an.
Julia Beier und ihre Kolleginnen -Schulsozialarbeiterinnen an weiterführenden Schulen in Weimar – sind sich einig: Das, was sie und ihre Kollegen – in der Regel ausgebildete Sozialpädagogen – leisten, könnten Lehrer und Erzieher weder zeitlich noch fachlich aufbringen, zumal die gut vernetzten Schulsozialarbeiter auch noch den Kontakt zu Jugendämtern, Beratungsstellen und anderen Hilfseinrichtungen knüpften. In den Schulen sei das bekannt und anerkannt, die Sprechstunden der Schulsozialarbeiter seien stark frequentiert. „Trotzdem haben wir das Gefühl, dass wir auch nach Jahren immer noch erklären müssen, was wir eigentlich tun“, sagt Heike Lindner*.
Stellenanteile sollten in Weimar gekürzt werden
Ihre Arbeit werde insbesondere von der Kommune und den Behörden zu wenig gesehen. Das sei nicht nur in Weimar, sondern auch anderenorts so. Jüngster Beleg dafür seien Gedankenspiele der Stadt gewesen, den Umfang der Schulsozialarbeit zurückzufahren, anstatt ihn, wie es der Bedarf eigentlich erfordere, zu erhöhen. Ursprünglich sollten in diesem Jahr an mehreren Schulen Stellenanteile gekürzt werden. Inzwischen habe die Stadt zwar eingelenkt und der Jugendhilfeausschuss zugestimmt, die Arbeit wie im vergangenen Jahr fortzuführen. Aber die Debatte hat bei den Schulsozialarbeitern Wunden geschlagen – und Befürchtungen wachsen lassen, dass im nächsten Jahr erneut der Rotstift bei ihnen angesetzt werden soll.
Ausgeschlossen ist das nicht: Das Land stellt zwar jährlich mindes
tens 22,2 Millionen Euro für die Schulsozialarbeit bereit und überprüft alle zwei Jahre, ob dieser Zuschuss erhöht werden muss. Die Kommunen selbst aber legen den Bedarf an Schulsozialarbeit fest und müssen sich an deren Finanzierung beteiligen. Doch genau hier scheint der Hase im Pfeffer zu liegen: Der kommunale Eigenanteil ist meist deutlich geringer als der des Landes.
Die Idee, nicht genutzte Mittel des Schulbudgets in die Schulsozialarbeit umzulenken, weist eine Sprecherin des Thüringer Bildungsministeriums entschieden zurück: Nicht nur, dass die Mittel – 30 Euro pro Schüler und Jahr – im Vorjahr nahezu ausgeschöpft worden seien, obwohl sie nicht von allen Schulen in Anspruch genommen wurden. Eine Prüfung habe auch ergeben, dass Restmittel aus dem Schulbudget nicht für die Finanzierung der Schulsozialarbeit verwendet werden dürfen: „Es besteht keine Deckungsmöglichkeit zwischen den beiden Haushaltstiteln.“
Das Gezerre ums Geld schmerzt die Weimarer Schulsozialarbeiterinnen. Denn sie sind es, die jeden Tag mit den teils massiven und auch in der Häufigkeit zunehmenden Problemen der Schüler konfrontiert
sind. „Unsere Arbeit hat vor allem zwei Ziele“, sagt Heike Lindner: „Die Kinder am Leben zu erhalten und sie zu einem Schulabschluss zu führen. Oft geht es tatsächlich erst einmal darum, dass ein Kind überlebt. Und so manches Kind hat allein schon damit etwas geleistet, dass es morgens in die Schule kommt – so kompliziert ist der familiäre Hintergrund.“
Kinder bauen nur langsam Vertrauen auf
Christine Werner, Schulsozialarbeiterin an einem Gymnasium, will sich die Folgen von Stundenkürzungen deshalb gar nicht ausmalen: „Es gibt an allen Schularten so viele Kinder und Jugendliche, die straucheln.“Jede von ihnen, sagt Werner, kenne Fälle, „wo man sogar über die Weihnachtsferien für den Bedarfsfall seine Telefonnummer hingibt, um einem Kind in einer akuten Notsituation einen vertrauen Anker zu geben“. Mit mangelnder Abgrenzung habe das nichts zu tun, ergänzt Heike Lindner. Sondern mit Verantwortungsgefühl und dem Wissen darum, dass ein Kind in der Regel sehr lange braucht, bis es sich jemandem anvertraut.
Ohne die Schulsozialarbeiter wüssten auch viele Lehrer nicht,
womit Schüler zu kämpfen haben, sagen die Schulsozialarbeiterinnen. Christine Werner: „Wir sind die, die auch die Lehrer bewegen, hinter die Probleme zu schauen. Die das sichtbar machen, was im Argen liegt.“Schon jetzt sei es nicht möglich, allen Anfragen gerecht zu werden, ergänzt Ilona Hohlmann. Der Gedanke aber, ein Kind wegschicken zu müssen, nur weil die Kommune bei der Schulsozialarbeit spart und damit Kindern den Zugang zu niederschwelliger Hilfe nimmt, sei unvorstellbar. „Denn: Den ersten Schritt gehen viele Kinder und Jugendliche ganz einfach zur Schulsozialarbeit. Einen zweiten Schritt schaffen viele nicht.“
Heike Lindner und ihre Kolleginnen hoffen, dass dieser Appell bei den Geldgebern ankommt und Schulsozialarbeit nicht länger als etwas betrachtet wird, das eine schöne Option, aber kein Muss ist. „Uns allen macht diese Arbeit riesengroßen Spaß“, sagt sie. „Das ist genau das, was wir alle wollen.“Inzwischen signalisierten ihnen Schüler, die sie vor Jahren betreut hätten und die längst ihren Weg gegangen seien: Was für ein Glück, dass Ihr damals da wart!