Thüringische Landeszeitung (Jena)

„Die Rettungsch­ancen sind noch gut“

Der Erfurter Sanitäter Paul-Philipp Braun gräbt mit seinem Team nach Überlebend­en der Erdbebenka­tastrophe

- Christian Unger

Noch immer sind die Rufe da. Oder das leise Weinen. Und das ist das Geräusch der Hoffnung, an das sich die Menschen in der Türkei klammern. Angehörige, die noch immer Väter, Mütter, Kinder unter den Trümmern hören. Oder hoffen, etwas zu hören. Manchmal, sagen die Helfer, ist das nicht so eindeutig. Dann kommen die Angehörige­n zu Paul-Philipp Braun (26) und dem Team: mehr als 40 Rettungskr­äfte, darunter Sanitäter wie Braun, zwei Sicherheit­sleute. Und das Wichtigste: sieben Hunde.

Am Montagaben­d ist die Gruppe von ISAR Germany gestartet, seit Dienstag sind sie in der Region. Hören die Retter noch ein Lebenszeic­hen unter Beton, Schutt und Stahl, dann schicken sie einen Hund auf die Trümmer, der schnüffelt und sucht. Danach noch ein zweiter Hund – zur Sicherheit. Entdecken die Hunde ein Zeichen eines Menschen, der unter Schutt begraben liegt, dann starten die Bergungssp­ezialisten. Sie horchen zunächst mit speziellen Geräten nach Schallwell­en, nutzen auch Kameras an einem langen, steifen Seil, das wie ein Endoskop

Bilder zwischen den Steinen und Stahlträge­rn nach oben sendet. Auch ein „Bio-Radar“hat das Team um Braun dabei, das Herzfreque­nzen orten kann.

Als Nächstes kommen die „Schadenste­llenberate­r“der Truppe ins Spiel. Sie suchen nach dem besten Weg durch die Trümmer zum Verschütte­ten. Dann kommt das schwere Gerät zum Einsatz, das das Team ebenfalls mit aus Deutschlan­d in die Türkei gebracht hat: pneumatisc­he Hebekissen, die Betonplatt­en per Hochdruck auseinande­rhebeln können, aber auch Sägen, Stemmen, Meißel.

An seinem ersten Tag im Einsatz in der Türkei hat das ISAR-Team drei Menschen retten können, trotz Temperatur­en am Gefrierpun­kt in der Nacht. Eine Frau, Mitte 60, eingeklemm­t hinter einem Kühlschran­k. Die Helfer müssen den

Kühlschran­k zersägen, dann können sie die Frau rausholen. Sie hat sich am Bein verletzt, ist unterkühlt, kommt in ein Krankenhau­s. Die Frau lebt. 36 Stunden nach dem Beben. Nach 36 Stunden unter Schutt.

Mehr als 11.000 Menschen haben bei der Erdbebenka­tastrophe in der Türkei und Syrien ihr Leben verloren. Allein in der Türkei starben nach Angaben von Präsident Recep Tayyip Erdogan bislang mehr als 8500 Menschen. Aus Syrien wurden bis zum Mittwochna­chmittag 2662 Tote gemeldet. Mehr als 53.000 Menschen wurden in den beiden Ländern verletzt. Es wird befürchtet, dass noch viel mehr Leichen gefunden werden.

Braun und sein Team aus Deutschlan­d sind seit Dienstagfr­üh in der Türkei. So wie viele Tausende

Helfer, aus der Türkei, aus Deutschlan­d und etlichen anderen Staaten. Laut den Behörden vor Ort sind 36 Länder an den Rettungsar­beiten beteiligt. Rund 100.000 Notfallbet­ten und gut 50.000 Zelte hat die Türkei organisier­t, 1000 Krankenwag­en, 5000 Helfer aus dem Gesundheit­ssektor. Am Dienstagab­end wurden 22.000 Menschen in Krankenhäu­sern behandelt, 8000 konnten noch lebend geborgen werden.

Ganz anders ist die Situation laut Medienberi­chten und Augenzeuge­nberichten in Syrien. Hierhin schaffen es kaum Rettungstr­upps, hier herrscht noch immer das Chaos des Bürgerkrie­gs, sind noch immer Milizen an der Macht, die sich mit den Truppen von Diktator Assad Gefechte liefern. Gerade die Regionen in Nordsyrien waren

schon vor dem Beben für Hilfsorgan­isationen nur schwer zugänglich. Am einzigen offenen Grenzüberg­ang Bab al-Hawa zwischen der Türkei und Syrien erschwert die politische Lage zusätzlich die Hilfe. Wegen Straßensch­äden verzögere sich dort die Lieferung humanitäre­r Hilfe, hieß es aus UN-Quellen. Hilfsgüter, die über die Hauptstadt Damaskus ins Land kommen, werden von der Regierung von Präsident Baschar al-Assad verteilt. Es gab mehrfach Berichte darüber, dass die Regierung sich daran selbst bereichert, etwa durch den Verkauf ans eigene Volk.

Das Team um Retter Braun versuchte einen Tag lang, in die besonders betroffene­n Regionen vorzudring­en, in die türkische Stadt Kirikhan, nahe der syrischen Grenze,

keine 100 Kilometer entfernt vom durch den Krieg zerbombten Alep- po. „Viele Straßen haben Risse. Je näher wir an die Stadt kamen, desto zerstörter waren die Häuser.“Sie müssen Umwege nehmen, Quer- straßen suchen, irgendwie durch- kommen. „Es ist ein Trümmer- meer“, sagt Braun. Zehnstöcki­ge Wohnhäuser sind zusammenge­fal- len wie ein Kartenhaus, liegen am Boden, Etage über Etage, wie zu- sammengefa­ltet.

Wie groß ist die Chance, dass noch Menschen unter dem Schutt leben? „Wir haben bei einem ande- ren Einsatz schon einmal eine Per- son nach sechs Tagen aus den Trüm- mern geholt“, erzählt Helfer Braun. Wenn der Mensch in einer Luftkam- mer feststeckt, steigen seine Überle- benschance­n. Wenn er dort Wasser hat, noch einmal mehr. Hier in der Türkei, bei eisigen Temperatur­en, entscheide­t über das Leben auch, was der Mensch trägt, wenn er unter Trümmern liegt.

72 Stunden, sagt Helfer Braun, sei die Regel. In diesem Zeitraum ist die Chance noch gut, Menschen zu retten. Eine Grenze sei bei 100 Stunden erreicht. Danach sinkt die Wahrschein­lichkeit deutlich. Noch aber glaubt Braun: „Die Rettungs- chancen sind noch gut.“

Je näher wir an die Stadt kamen, desto zerstörter waren die Häuser. Paul-Philipp Braun über seine Arbeit in der Nähe der türkischen Stadt Kirikhan

 ?? TUNAHAN TURHAN / IMAGO/ZUMA WIRE ?? Zerstörte Gebäude in Hatay im Süden der Türkei. Das Beben hatte hier eine Stärke von 7,7 auf der Richterska­la.
TUNAHAN TURHAN / IMAGO/ZUMA WIRE Zerstörte Gebäude in Hatay im Süden der Türkei. Das Beben hatte hier eine Stärke von 7,7 auf der Richterska­la.
 ?? ISAR ?? Bergung mit Hund. Ein Sanitäter der Gruppe ISAR Germany im Katastroph­engebiet in der Türkei.
ISAR Bergung mit Hund. Ein Sanitäter der Gruppe ISAR Germany im Katastroph­engebiet in der Türkei.
 ?? ISAR ?? ISAR-Bergungssp­ezialist PaulPhilip­p Braun.
ISAR ISAR-Bergungssp­ezialist PaulPhilip­p Braun.

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