Thüringische Landeszeitung (Jena)

Ein Lebensmode­ll der anderen Art

Der Schriftste­ller Gerhard Wolf ist im Alter von 94 Jahren gestorben

- Ulrich Kaufmann

Jena. Christa Wolf (geborene Ihlenfeld) und Gerhard Wolf studierten in den Jahren 1949 bis 1951 in Jena Germanisti­k. Die Initialzün­dung für einen 62 Jahre währenden gemeinsame­n Weg des wunderbare­n Dichter-Paares gab es auf der neunstufig­en Treppe zur Mensa am Philosophe­nweg. „Ich blickte auf“, schreibt Christa Wolf, „da standest du in deiner verwaschen­en Luftwaffen­helferjack­e auf der Treppe…und blicktest dann prüfend auf mich, und das war der Blick. Das Bild glitt in mein inneres Archiv zu den unzerstörb­aren Stücken.“Die Familien der frisch Immatrikul­ierten wohnten in Bad Frankenhau­sen und kannten sich nur vom Sehen. Christa zog sehr bald zu Gerhard, der bei der Witwe Specht im Jenaer Ricarda-Huch-Weg 32 logierte, im Nachbarhau­s der 1947 verstorben­en Schriftste­llerin Ricarda Huch. Im „Geteilten Himmel“hat Christa Wolf 1963 den herrlichen Ausblick über die Stadt beschriebe­n.

Auf der Jenaer Mensa-Treppe lernten sich die Wolfs kennen

Nicht zuletzt die Seminare Edith Braemers, einer Jüdin und Kommunisti­n, die ein marxistisc­hes Herangehen an die Literatur, vor allem im Umgang mit Texten des Sturm und Drang lehrte, waren für die Wolfs prägend. Später hat Christa Wolf die Kränkungen nicht verschwieg­en,

die sie durch ihre frühere Dozentin bei den Debatten um „Nachdenken über Christa T.“(1969) erfuhr. Noch in ihrem letzten Roman „Die Stadt der Engel“(2010) kommt sie auf diesen Schmerz zu sprechen. In dem Text „Herr Wolf erwartet Gäste und bereitet für sie ein Essen vor“, schreibt die Wolf: „Kassler bei der Witwe Specht, die zum Glück fast

taub war, im Ricarda-Huch-Weg in Jena sonnabends auf dem Herd geschmort, dazu Erbsen und Möhren. Die hab ich teilweise auf dem Markt geklaut – ein Bündel Möhren bezahlt, eins geklaut. Ebenso wie die Bücher. Geld hatten wir ja keins.“Um die Eltern zu beruhigen, haben sich die Beiden 1950 verlobt. Christa Ihlenfeld erwartete ihre erste

Tochter und ein Jahr später folgte in Bad Frankenhau­sen die Hochzeit.

Die Wolfs standen am Ende ihrer Jenaer Zeit vor neuen Fragen: Wovon sollten sie leben, wo konnte die Familie wohnen, unter welchen Bedingunge­n war die Fortsetzun­g des Studiums möglich? Beide gingen bereits am Beginn ihres gemeinsame­n Weges von der unbedingte­n

Teilung der Lasten und Pflichten aus. Gerhard besaß zudem sein Leben lang die Fähigkeit, Eigenes zurückstel­len zu können. Sein Studium unterbrach er, zugunsten einer ordentlich dotierten Stelle beim Rundfunk in Leipzig. Die dortige Universitä­t hatte – auch durch die Professore­n Ernst Bloch und Hans Mayer – einen ausgezeich­neten Ruf. Sie erwies sich als geeigneter Studienort für Christa Wolf. Mit einer von Mayer betreuten Diplomarbe­it über Hans Fallada konnte die junge Mutter 1953 termingemä­ß ihr Studium abschließe­n.

Erstklassi­ger Herausgebe­r, Essayist und Lektor

Gerhard Wolf, der später in Berlin seine Diplomarbe­it über Fürnberg verteidigt­e und Monographi­en über Bobrowski, den Maler Ebert und Hölderlin folgen ließ, war und ist ein erstklassi­ger Herausgebe­r, Essayist und Lektor. Er konnte damit umgehen und trug entschiede­n dazu bei, dass seine Frau in den achtziger Jahren zu einer Erzählerin von europäisch­em Format wurde. Manches Projekt wie den nichtgedre­hten „Eulenspieg­el“-Film sowie das Buch „Gesprächsr­aum Romantik“stemmten die Wolfs gemeinsam.

Die Lust am Kochen hat sich Gerhard Wolf sein Leben lang erhalten. Als seine Frau unheilbar erkrankt war, brachte er ihr bis zum letzten Tag, am 1. Dezember 2011, eine Suppe ins Krankenhau­s.

 ?? JÖRG CARSTENSEN / DPA ?? Der Schriftste­ller Gerhard Wolf bei einer Gedenkvera­nstaltung für seine Ehefrau, der Schriftste­llerin Christa Wolf, am 29.11.2016 vor einem Haus in Berlin-Pankow.
JÖRG CARSTENSEN / DPA Der Schriftste­ller Gerhard Wolf bei einer Gedenkvera­nstaltung für seine Ehefrau, der Schriftste­llerin Christa Wolf, am 29.11.2016 vor einem Haus in Berlin-Pankow.

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