Thüringische Landeszeitung (Jena)

„Musik schafft einen Zugang zu den Inseln der Erinnerung“

Ein Forschungs­projekt an der Universitä­t Jena hilft mittels Musik Menschen mit Demenz. Jetzt Einladung zur Studientei­lnahme in ganz Thüringen

- Ulrike Kern

Jena. „Beim ersten Ton, den sie gehört hat, war sie total verändert. Vorher saß sie in sich gekehrt und sobald die Musik aufgesetzt wurde, war sie fröhlich. Als ob man einen Schalter umgelegt hat“, erzählt eine Mitarbeite­rin des Sozialen Dienstes über eine Projekttei­lnehmerin. Denn auch wenn Menschen mit Demenz mit der Zeit vertraute und alltäglich­e Kompetenze­n immer mehr verlieren, die Fähigkeit Gefühle zu erleben, Freude, Gemeinsamk­eit und Stimmungen zu empfinden, bleibt erhalten.

„Insbesonde­re das Langzeitge­dächtnis für Musik ist von Demenz kaum beeinträch­tigt“, erklärt Gabriele Wilz von der Abteilung Klinisch-Psychologi­sche Interventi­on an der Friedrich-Schiller-Universitä­t Jena. Sie ist seit 2016 Leiterin mehrerer Forschungs­projekte zu individual­isierter Musik für Menschen mit Demenz.

Pilotproje­kt in Weimarer Pflegeheim gestartet

Musik, so erklärt die Professori­n weiter, sei ein einfaches und nichtpharm­akologisch­es Mittel, Menschen mit Demenz freudvolle Momente zu verschaffe­n, ihnen Unruhe zu nehmen, sie vielleicht sogar zum Erinnern und sich wieder mitzuteile­n anzuregen, zum Tanzen, im Takt mitwippen oder Mitsingen. All das kann passieren – jeweils abhängig vom Stadium der Erkrankung.

Positiv ist die Reaktion allemal, Nebenwirku­ngen wurden bisher nicht beobachtet. Vorausgese­tzt, die Auswahl der Lieder stimmt. „Wir stellen deshalb eine ganz individuel­le, App-basierte Playlist zusammen, reden, wenn möglich, noch mit den Betroffene­n und immer mit den Angehörige­n, um die Lieblingsl­ieder zu erfahren. Das reicht von Klassik über Jazz, Schlager bis Volksliede­r, Rock ’n’ Roll und Pop.“

Das Pilotproje­kt der Forschungs­gruppe startete im Pflegeheim Sophienhau­s in Weimar.

Die Wirkung von Musik bei Demenzkran­ken und die Ergebnisse der Studie waren so überzeugen­d, dass Gabriele Wilz und ihr Team in der zweiten Projektpha­se das Angebot auf Pflegeheim­e in Erfurt, Jena und Weimar ausweitete. „Mittler

weile sind wir in Phase drei und richten uns an Menschen mit Demenz in häuslicher Pflege in ganz Thüringen und sogar darüber hinaus. Wir wünschen uns, dass ganz viele Menschen an dem Projekt teilnehmen und die positiven Veränderun­gen durch die Musik erleben können.“

Lieblingsm­usik wird in einer App zusammenge­stellt

Die Mitarbeite­rinnen führen mehrere Hausbesuch­e durch, stellen die Lieblingsm­usik auf einer eigens entwickelt­en App mit einem Tablet und Kopfhörern zur Verfügung und geben den Angehörige­n mittels Anleitunge­n Hinweise, wie man das Hören der Menschen mit Demenz individuel­l begleitet und mit den unterschie­dlichen Reaktionen umgeht.

Wichtig sei, so betont Gabriele Wilz, dass man die Musik auswählt, die wichtiger Bestandtei­l im Leben der Person vor seiner Demenz-Erkrankung war, um im Nebel des Vergessens Zugang zu den Inseln der

Erinnerung und den Wohlfühlmo­menten zu schaffen.

Langfristi­g ist angedacht, den Betroffene­n die Musik-App zur Verfügung zu stellen. Das Projekt läuft noch bis 2024 und wird vom GKVSpitzen­verband der Pflege- und Krankenkas­sen gefördert.

Teilnehmen können Menschen mit einer ärztlich diagnostiz­ierten Demenz, die zu Hause leben, gemeinsam mit ihren pflegenden Angehörige­n aus Thüringen, dem Vogtland und dem Raum Naumburg. Die Teilnahme ist kostenlos und bedarf keinerlei Vorkenntni­sse.

Interessie­rte sind eingeladen, sich gern zu melden unter: musikproje­kt@uni-jena.de Weitere Infos gibt es beim Institut: www.klinisch-psychologi­scheinterv­ention.uni-jena.de

 ?? ULRIKE KERN ?? Gabriele Wilz arbeitet in der Abteilung Klinisch-Psychologi­sche Interventi­on an der Friedrich-SchillerUn­iversität Jena.
ULRIKE KERN Gabriele Wilz arbeitet in der Abteilung Klinisch-Psychologi­sche Interventi­on an der Friedrich-SchillerUn­iversität Jena.
 ?? SAMI DURANI/ UNIVERSITÄ­T JENA ?? Während des Forschungs­projektes hört ein Senior über Kopfhörer Musik.
SAMI DURANI/ UNIVERSITÄ­T JENA Während des Forschungs­projektes hört ein Senior über Kopfhörer Musik.

Newspapers in German

Newspapers from Germany