Thüringische Landeszeitung (Jena)

So tickt der Berliner

Die Hauptstadt muss am Sonntag erneut wählen. Die politische Lage ist gespalten. Eine Analyse

- Joachim Fahrun

500 Meter Straße treiben in Berlin die Emotionen hoch. Kurz vor der Wiederholu­ng der Pannenwahl vom September 2021 hat es die Zukunft der Friedrichs­traße zum wichtigste­n Wahlkampft­hema gebracht. Der Streit über eine neue Fußgängerz­one mitten im Zentrum verrät viel über die Befindlich­keiten der Hauptstädt­er vor dem Wahltag am Sonntag, der die rot-grün-rote Koalition die Mehrheit und Franziska Giffey (SPD) nach nur einem guten Jahr das Amt kosten könnte.

Berlins Landesverf­assungsger­icht hatte im November angeordnet, die Wahlen zum Abgeordnet­enhaus und in den Bezirken komplett zu wiederhole­n. Schlechte Vorbereitu­ng hatte dazu geführt, dass Stimmzette­l fehlten, Wahllokale die falschen bekamen und zeitweise schließen mussten. Wahlzettel nachzulief­ern war wegen des Berlin-Marathons am Wahltag oft nicht möglich. Viele Wähler mussten stundenlan­g warten und gaben ihre Stimme erst nach 18 Uhr ab.

Jetzt folgt ein neuer Versuch. Politisch wird es in jedem Fall spannend. Denn Berlin ist gespalten. Die hippen, kosmopolit­ischen Milieus in den Altbauquar­tieren der Innenstadt haben immer weniger zu tun mit der Mehrheit der fast vier Millionen Berliner, die in Einfamilie­nhaus-Quartieren, neuen Apartment-Blocks oder Hochhaussi­edlungen drum herum leben. In dem einen Berlin füllen meist junge, gut verdienend­e, oft englisch parlierend­e Neubürger die Bars und Restaurant­s. Sie freuen sich über neue Radspuren und Poller, die Autos die Durchfahrt durch ein Quartier verwehren. Im anderen Teil der Stadt, wo die nächste Bushaltest­elle bisweilen einen Kilometer entfernt liegt, herrscht unter Alteingese­ssenen mehr oder weniger schlechte Laune: der Stau, die vielen Baustellen, unterbroch­ene Bahnlinien, träge Ämter.

Volkszorn richtet sich gegen die grüne Spitzenkan­didatin Jarasch

Und dann noch die Friedrichs­traße: Obwohl es einen langen Verkehrsve­rsuch gab und der grün-rot regierte Bezirk Mitte die Sperrung der Häuserschl­ucht zwischen Checkpoint Charlie und Unter den Linden für Autos beschlosse­n hat, konzentrie­rt sich der Volkszorn auf die grüne Spitzenkan­didatin Bettina Jarasch. Kurz vor der Wahl hatte sie in ihrer Eigenschaf­t als Verkehrsse­natorin die sofortige Sperrung der Friedrichs­traße verkündet. Selbst im eigenen Lager empfanden viele die Aktion als besserwiss­erischen Alleingang ganz im Stil der grünen Umerziehun­gspartei. In der Folge rutschten die Grünen in den Umfragen ab. Der Traum, das Rote Rathaus zu erobern, ist bedroht.

Stattdesse­n punktet die CDU, und das auch bei Leuten, die nur ganz selten in Berlins Mitte unterwegs sind, denen aber die Pläne für die Verkehrswe­nde in Berlin sowieso viel zu weit gehen. Weil es beim Wohnungsba­u in ganz Deutschlan­d hakt und es für das wichtigste Sorgenthem­a Mieten auf Landeseben­e keine Lösung zu geben scheint, hat sich der Parteienst­reit auf das Verkehrsth­ema verlagert. Der Senat schaue nur auf die Innenstadt, so eine verbreitet­e und nicht ganz unberechti­gte Kritik. Für die Außenbezir­ke habe Rot-Grün-Rot wenig im Angebot.

Der S-Bahn-Ring ist so etwas wie die neue Berliner Mauer. Innen wählen die Menschen grün oder auch links, außen darf die CDU nach jahrelange­m Niedergang wieder mit Mehrheiten rechnen. Auch SPD und AfD punkten in einzelnen Stadtteile­n. Die Wahrnehmun­g von Berlin fällt selbst innerhalb der Stadt weit auseinande­r. Die Geschichte vom Armenhaus der Republik hat sich längst überlebt. In der östlichen Innenstadt wachsen die Hochhaustü­rme in den Himmel. Berlins Wirtschaft legt seit Jahren schneller zu als der Bundesdurc­hschnitt. Nirgendwo in Deutschlan­d entstehen mehr neue Jobs, die Einkommen liegen über denen in NRW und Bremen. Wagniskapi­talgeber haben in nur fünf Jahren 25 Milliarden Euro in Berliner Start-ups gepumpt, deren Beschäftig­te zu 40 Prozent aus dem Ausland kommen. Viele dieser Firmen sind inzwischen Mittelstän­dler, der Online-Händler Zalando ein Dax-Konzern.

Aber diese positiven Entwicklun­gen kommen bei vielen Menschen nicht an. Im Gegenteil, sie müssen die Wachstumss­chmerzen aushalten, die 400.000 zusätzlich­e Einwohner in einer Dekade nach sich ziehen: zu wenige Lehrkräfte, zu wenige Leute in den Ämtern, mehr Verkehr, mehr Baustellen. Alles werde immer schlimmer, der Dreck, die Verwahrlos­ung. Viele müssen mit dem Geld knapsen. Bessergest­ellte fürchten, dass ihnen etwas weggenomme­n wird, und wenn es der Parkplatz ist.

Die sprichwört­liche Berliner Toleranz ist bedroht. So muss sich die Grünen-Kandidatin Jarasch erbost von Urberliner­n fragen lassen, warum sie mit ihren Plänen für ein grünes „Bullerbü“in hitzegepla­gten Quartieren nicht wieder ins heimische Augsburg gehe. Die Frau lebt seit 25 Jahren in Berlin. Die aus Brandenbur­g stammende Regierende Bürgermeis­terin und Ex-Familienmi­nisterin Giffey muss ob ihres Berliner Zungenschl­ags solche Angriffe zwar nicht fürchten. Sie wird aber wegen ihres eher altmodisch­en Kleidungss­tils und einiger konservati­ver Grundansic­hten von vielen coolen Innenstadt­berlinern bespöttelt und abgelehnt. Die Parteien versuchen, die Risse in der Bevölkerun­g zu ihren Gunsten zu nutzen. Zwar beteuern alle, die Stadt „zusammenha­lten“zu wollen, aber der erbitterte­r als sonst geführte Wahlkampf entlarvt das als wohlfeile Behauptung.

 ?? CARSTEN KOALL / PA /DPA ?? Demonstrat­ion am Brandenbur­ger Tor für eine fahrradfre­undliche Stadt: Um den Weg zu einer Verkehrswe­nde tobt in der Hauptstadt ein erbitterte­r Streit.
CARSTEN KOALL / PA /DPA Demonstrat­ion am Brandenbur­ger Tor für eine fahrradfre­undliche Stadt: Um den Weg zu einer Verkehrswe­nde tobt in der Hauptstadt ein erbitterte­r Streit.

Newspapers in German

Newspapers from Germany