Thüringische Landeszeitung (Jena)

Frische Luft und etwas mehr Platz

Die Discountri­esen gehen voran: Aldi verbannt Billigflei­sch aus der Wurst, Lidl listet Fleisch aus

- Luisa Herbring und Stefan Schulte

Essen. Während sich Cem Özdemir (Grüne) nach Christian Schmidt (CSU) und Julia Klöckner (CDU) als dritter Agrarminis­ter an staatliche­n Tierwohlst­andards versucht, ist der Handel längst weiter. Die großen vier – Edeka, Rewe, Aldi und Lidl – haben sich 2019 eigene Standards für Masttiere und Milchkühe gesetzt und stellen seitdem ihre Sortimente auf höhere Haltungsst­ufen um. Nun geht einmal mehr Aldi einen weiteren Schritt voran – und verbannt die unteren beiden Haltungsst­ufen nach dem Frischflei­sch auch bei den Wurstwaren und verarbeite­ten Fleischpro­dukten bis 2030 aus seinen Kühlregale­n.

Da die Menschen in Deutschlan­d fast genauso viel Fleisch in Form von Wurst, Schinken oder Hühnchennu­ggets verspeisen wie Steaks oder Hack, ist dieser Schritt rein mengenmäßi­g ein großer. Wie beim Frischflei­sch ist davon auszugehen, dass die Konkurrenz nachzieht. Rewe hatte bereits angekündig­t, Wurst und Fleischpro­dukte seiner Eigenmarke­n bis 2025 mindestens auf Haltungsst­ufe zwei zu heben.

Aldi hatte im Sommer 2021 angekündig­t, die Mindeststa­ndards für Frischflei­sch zu erhöhen, bei den Milchkühen war Edeka im Januar 2022 vorangegan­gen, Aldi, Lidl und Rewe zogen rasch nach. Inzwischen verkaufen alle Discounter und Supermärkt­e viel Frischmilc­h aus höheren Haltungsst­ufen, Aldi gibt den Anteil mit 45 Prozent an. Bei Frischflei­sch gibt es nach wie vor viele Billigprod­ukte von Schweinen, die kaum Platz im Stall haben. Bis Mitte des Jahrzehnts sollen sie verschwind­en. Mit der Ausweitung auf verarbeite­te Produkte ist der Handel auch den nun von Minister Özdemir geplanten staatliche­n Standards erneut voraus: Sie gelten zunächst nur für SchweineFr­ischfleisc­h.

Lidl will mehr Fleischwar­en durch vegane Produkte ersetzen

Für die Tiere ist es zu Lebzeiten leidlich egal, ob aus ihnen später Wurst oder Steaks gefertigt werden. Ein Mastschwei­n etwa hat in der Haltungsst­ufe 1, die den gesetzlich­en Mindeststa­ndards entspricht, nur 0,75 Quadratmet­er Platz, in Stufe 2 ein paar Quadratzen­timeter mehr, in Stufe 3 dann 1,05 Quadratmet­er, allerdings mit Frischluft­zugang, etwa über eine offene Stallfront. Hinzu kommen ab Stufe 3 mehr Spielzeug und der Verzicht auf genverände­rte Futtermitt­el. Die Haltungsst­ufe

4 des Handels entspricht den europäisch­en Biostandar­ds. Özdemir plant fünf Stufen, die weitgehend denen des Handels gleichen, Stufe fünf ist der Biostandar­d, den der Handel schon in vier erfüllt wissen will.

Aktuell verkauft Aldi nach eigenen Angaben 15 Prozent seiner Wurstwaren aus besserer Haltung, beim Frischflei­sch sind es 20 Prozent. Die Nachfrage etwa nach Biofleisch sei aber gegen den aktuellen allgemeine­n Trend stark wachsend.

Die Tierschutz-Stiftung „Vier Pfoten“begrüßt den Vorstoß. Ihre Nutztierex­pertin Nora Irrgang betont gleichwohl, dass der Lebensmitt­elhandel selbst durch seinen enormen Preisdruck auf die Landwirte zur nun bekämpften Tierwohl-Problemati­k beigetrage­n habe. Auch bemesse sich Tierwohl keineswegs allein an der Haltungsfo­rm: „Eine gut gestaltete Haltungsum­gebung ist vielmehr nur eine Voraussetz­ung, die aber durch gutes Management ergänzt werden muss. Eine unzureiche­nde Haltungsum­gebung kann dagegen auch mit gutem Management kein gutes Tierwohl

erreichen“, erklärt Irrgang. Unter Tierwohl verstehe man den mentalen Zustand des Tieres. Zu diesem gehören Gesundheit, Ernährung, genügend Platz und Beschäftig­ungsmöglic­hkeiten sowie die Möglichkei­t, arteigene Verhaltens­weisen ausleben zu können.

Der Konsumtren­d zu nachhaltig­eren Produkten spiegelt sich in den Imagekampa­gnen der Handelsrie­sen wider. So machte Lidl unlängst mit seiner Ankündigun­g von sich reden, grundsätzl­ich weniger Fleisch verkaufen zu wollen. Tierische Produkte sollen ausgeliste­t und durch pflanzlich­e ersetzt, das Sortiment bis 2025 umgestellt werden, kündigte Lidl auf der Grünen

Woche in Berlin an. Mit seinen veganen Fleischalt­ernativen liegt Lidl bereits weit vorn, 2022 zeichnete die Tierschutz­organisati­on Peta die Lidl-Marke „Vemondo“als „beste vegane Eigenmarke“aus.

Damit folgen die Discountri­esen dem Konsumverh­alten – seit Jahren wird in Deutschlan­d immer weniger Fleisch gegessen. 2022 sank die Fleischpro­duktion so stark wie nie zuvor – um 8,1 Prozent auf rund sieben Millionen Tonnen.

Die Frage, wie die Landwirte den Umbau ihrer Ställe finanziere­n sollen, wenn die vier Handelsrie­sen weiter um die niedrigste­n Preise konkurrier­en, ist eine andere. Julia Adou, Nachhaltig­keitschefi­n von Aldi Süd, sagte dazu: „Das ist eine gesamtgese­llschaftli­che Aufgabe. Die Verbrauche­r müssen bereit sein, für Wurst aus besserer Haltung auch etwas mehr auszugeben, die Politik muss sicher mehr tun als die im Raum stehende eine Milliarde Euro für den Umbau der Tierhaltun­g. Und wir geben den Landwirten das Verspreche­n, dass Fleisch aus den höheren Haltungsfo­rmen im Markt bessere Preise erzielt.“

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INGO OTTO / FUNKE FOTO SERVICES Gesundheit, Ernährung, genügend Platz und Beschäftig­ungsmöglic­hkeiten – dem Tierwohl wird zunehmend mehr Bedeutung beigemesse­n.
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ALDI SÜD Haltungsfo­rm 4 entspricht europäisch­em Biostandar­d.

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