Thüringische Landeszeitung (Jena)
Inklusive Beschulung aller sei traumtänzerisch
Wir gehören dazu: Inklusion in Jena – Die Erfahrungen, die eine Jenaer Familie an einer inklusiven Gesamtschule gemacht hat, waren frustrierend. Am Förderzentrum Jena sehen sie ihren Sohn besser aufgehoben
Sie könnte vieles berichten, darüber, dass man sich als Eltern eines behinderten Kindes oft „herumgeschubst fühlt wie eine Billardkugel“, darüber, dass Pflege meist nur als Pflege alter Menschen gesehen wird, obwohl oft auch Kinder oder Jugendliche pflegebedürftig seien, über Formularfluten, Antragswahnsinn und behördliche Stolperfallen, über die Sorge, was einmal kommt, wenn man sich nicht mehr selbst um das Kind kümmern kann. Doch Anne Köhler* legt im Gespräch den Fokus auf ein konkretes Thema, auch wenn es viele weitere zu besprechen gebe.
Ihr Sohn Nils* ist heute 13 Jahre alt, er lebt mit seinen Eltern und seiner 17-jährigen Schwester in Jena. Bereits im Alter von drei Monaten bemerkten die Eltern, dass der kleine Nils ungewöhnlich schnell schlapp war. Eine Herzschwäche wurde zunächst festgestellt, alle folgenden Untersuchungen machten wenig Mut. Es wurde eine Stoffwechselerkrankung festgestellt. Zwei Jahre lang sei es für Nils nur ums Überleben gegangen, sagt seine Mutter. Dass ihr Sohn heute noch da sei, verdanke man sehr „blickigen“Ärzten. Für die Familie aus Jena gehörten Krankenhausbesuche, Untersuchungen, Therapien – auch in weiter entfernten Spezialambulanzen – zum Alltag und noch heute sind Arzttermine Normalität für Nils und seine Familie.
Man wird bescheiden im Laufe der Jahre
Nils sei motorisch eingeschränkt, hat wenig Kraft, sodass er bei weiteren Strecken auf den Rollator oder den Rollstuhl angewiesen sei. Außerdem ist er schwerhörig, trägt seit dem dritten Lebensjahr ein Hörimplantat. Nils könne sich gebärdenunterstützt verständigen oder aber mit einem sogenannten „Talkpad“. Sowohl Anne Köhler als auch ihr Mann können nur noch Teilzeit arbeiten, beide sind wissenschaftlich tätig.
„Wir sind gute Pflegepartner“, sagt Anne Köhler. Und obwohl es sehr engagierte Großeltern in der Stadt gebe, „ohne die gar nichts ginge“, bleibe für Individualität kaum Zeit. An guten Tagen beanspruche Nils 100 Prozent der elterlichen Zeit, an schlechten Tagen 120 Prozent, sagt Anne Köhler etwas zugespitzt. „Man wird im Laufe der Zeit auch bescheiden und freut sich an den kleinen Dingen. Wichtig ist,
dass man die kleinen Fortschritte erkennt. Wir sind ja glücklich darüber, dass Nils da ist. Das ist eben die Aufgabe, die wir bekommen haben.“
Mit der UN-Behindertenrechtskonvention erhielten die 185 Staaten, die sie unterschrieben haben, die Aufgabe, allen Menschen von Anfang an in allen gesellschaftlichen Bereichen selbstbestimmtes und gleichberechtigtes Leben zu ermöglichen, unabhängig davon, ob sie behindert sind oder nicht. Inklusion ist das Schlüsselwort. Jena sei hier sicher Vorreiter, so Anne Köhler. Doch es sei Wunschdenken, zu glauben, dass jedes Kind an einer inklusiven Gesamtschule gut aufgehoben sei, und das liege nicht an unaufgeklärten Eltern, die sich der Idee der Inklusion versperren wollen.
Vor sieben Jahren, im Jahr 2017, war Nils eingeschult worden. Damals sei in Jena darüber diskutiert worden, ob es das Förderzentrum überhaupt noch brauche, erinnert sich Anne Köhler zurück. Nur noch wenige Schüler besuchten das Förderzentrum in Jena. Es war eine Zeit, in der vor allem der damalige Bürgermeister Frank Schenker (damals CDU, heute Die Grünen) die Inklusion in Jena vorantrieb und die Schullandschaft sich bereits durch die reformpädagogischen Konzepte verändert hatte. Schenker habe sich
damals 100 Prozent Inklusion gewünscht, heute sei man in Jena bei 90 Prozent, sagt Anne Köhler. Den bundesweiten Durchschnitt von 30 Prozent Inklusion halte sie ganz persönlich mit ihrer heutigen Erfahrung für realistisch.
Familie Köhler wählte 2017 eine Schule für ihren Sohn, die den Jakob-Muth-Preis für außerordentliche Leistungen im Bereich schulischer Inklusion errungen hatte, eine inklusive Gesamtschule. Rückblickend betrachtet sieht Anne Köhler dies als Fehler an. „Das waren zwei verlorene Jahre für meinen Sohn“, sagt sie. Nils brauche für alles etwas länger. Zeit sei ein wesentlicher Faktor für ihn und diese Zeit fehle in der Gesamtschule. Seine Bedürfnisse würden sich kaum mit den schulischen Abläufen vereinen lassen. Dass er an der Schule angenommen wurde, sei letztlich eine
Katastrophe gewesen. Nils sei „nicht in der Lage gewesen, sich zwischen 24 anderen Schülern einzufügen“. Klassenfahrten und Ausflüge seien geplant worden, ohne auch nur ansatzweise an Nils zu denken.
Leistung der Pädagogen lässt sich kaum hoch genug einschätzen
Für Anne Köhler zeigte diese Erfahrung nur eines: „Inklusion hat ihre Grenzen. Ich glaube nicht, dass jedes Kind inklusiv an einer Gesamtschule beschult werden kann. Das ist traumtänzerisch.“Sie erklärt: „Inklusion bedeutet auch, dass jedes Kind die bestmögliche Beschulung und Förderung erhält, und das kann auch die Förderschule sein.“Es reiche nicht, die Kinder mit Behinderung einfach mit in die Gesamtschulen aufzunehmen. Inklusion kostet Geld. Meist sei es Manpower,
an der es in den Schulen fehle – qualifiziertes Fachpersonal.
Es habe Situationen gegeben, in denen ihr Sohn allein auf dem Schulhof darauf wartete, abgeholt zu werden, weil ein Ausflug gemacht wurde und es nicht möglich war, ihn mitzunehmen. „Das war auch menschlich ernüchternd“, sagt Anne Köhler. Hilfeplanungsgespräche, in denen ein individueller Förderplan für jeden Schüler mit Behinderung erarbeitet werde, seien teilweise nicht gut verlaufen. „Wir wollten das unserem Sohn nicht mehr antun.“
Schließlich wechselten die Köhlers an das Staatliche regionale Förderzentrum, zu dem „Janis-Schule“und „Kastanienschule“vereint worden sind. Etwa 20 Kinder des Förderzentrums werden derzeit am Stadtort in Wenigenjena unterrichtet. Der Stammsitz des Förderzentrums jedoch befindet sich in der Rudolf-Breitscheid-Straße 4 in Lobeda. Nur acht bis neun Schüler besuchen hier eine Klasse, sagt Anne Köhler. Für Nils sei das viel angenehmer. Auch hier benötige er noch eine Schulbegleitung, die ihn zusätzlich unterstützt. Dennoch könne besser auf ihn eingegangen werden. „Was die Pädagogen der Förderschulen täglich leisten, ist gar nicht hoch genug einzuschätzen“, sagt Anne Köhler. Neben der Klassenleitung gebe es zusätzlich zwei sonderpädagogische Fachkräfte in der Klasse. Und auch hier seien die Pädagogen schon oft am Limit.
Schulisches Ziel für Nils müsse die Erlangung einer möglichst selbstständigen, individuellen Lebensbewältigungskompetenz sein. „Nils ist weit davon entfernt, einmal selbstständig in einer eigenen Wohnung leben zu können“, sagt seine Mutter. Ein großes H stehe in seinem Schwerbehinderten-Ausweis, es stehe für „hilflos“, und das sei er auch. Für ihn sei es wichtig, in der Schule zu lernen, möglichst viel Selbstständigkeit zu erlangen.
Letztlich sei es die finanzielle Ausstattung der Schulen, an der gelungene Inklusion scheitere. Man müsse haushalterisch tätig werden, wenn man bestehende Probleme lösen wolle, sagt Anne Köhler. Der Bedarf am Förderzentrum sei jedenfalls trotz Inklusionsmöglichkeiten noch gegeben. Auch Eltern mit Kindern, die eine Behinderung haben, sollten ein Wahlrecht haben, was den Schulbesuch ihrer Kinder angeht.