Thüringische Landeszeitung (Jena)

Ein Marathon ohne Ziellinie

Eine Jenaerin (44) über ihr Leben mit Multiple Sklerose. Mit Spendenkam­pagne erkämpft sie sich mehr Lebensqual­ität

- Karl Gattenlöhn­er

Jena. Katharina ist 1999 keine zwanzig, macht die Ausbildung zur Krankensch­wester – und immer öfter fühlen ihre Beine sich seltsam an. Sensibilit­ätsstörung­en, manche beschreibe­n es als Kribbeln oder „Ameisenlau­fen“, sie glaubt stattdesse­n, taube Stellen zu finden. Sie schlägt nach, das Fachbuch „Pflege heute“braucht sie ohnehin für die Prüfungen. „Das wird doch nicht Multiple Sklerose sein“, denkt Katharina.

Der Neurologe, den sie zurate zieht, glaubt ihr nicht. „Er hat mich als balla-balla hingestell­t, fragte direkt, ob ich auf den Krankensch­ein aus bin.“Und dabei bleibt es. Denn es sind turbulente Zeiten für die junge Frau, vor Kurzem hat sie ihren Vater verloren, bald wird ihre Tochter entbunden. Die Sorge um taube Beine und der Gedanke „Multiple Sklerose“werden vom rauschende­n Alltag überdeckt.

Dann beginnen die Sehstörung­en. „Manchmal wie Fettflecke­n auf einer Brille“, beschreibt Katharina sie, „ein anderes Mal war es wie dauerhaft durch eine Gardine zu schauen“. Sie geht zum Augenarzt, der nichts feststellt. Die Symptome bessern sich, kehren nach einigen Wochen zurück. Der Augenarzt verweist sie ans Unikliniku­m Jena (UKJ). Er vermutet statt eines Fehlers der Augen Probleme bei der Reizweiter­leitung ans Gehirn.

Frauen doppelt so häufig betroffen wie Männer

„Multiple Sklerose ist eine Entzündung des zentralen Nervensyst­ems – Hirn und Rückenmark“, erklärt Katharina. Der eigene Körper greift die Nervenzell­en an. „Je nachdem wo die Herde sitzen, fällt dann etwas aus. Bei mir befinden sie sich zumeist in der Halswirbel­säule, deswegen geht’s sehr aufs Gehen und Gleichgewi­cht.“

Über 200.000 Menschen in Deutschlan­d leiden an Multipler Sklerose, Frauen sind doppelt so häufig betroffen wie Männer. Körpereige­ne Abwehrzell­en greifen die Myelinsche­iden, die Isolierung der Nervenzell­en, an. Der Reiz dort fließt erst langsamer, irgendwann gar nicht – der Nerv ist tot. Konzentrat­ions-, Seh- oder Bewegungss­törungen

bis zur Lähmung sind die Folgen. Heilen kann man MS nicht, nur verlangsam­en.

Für Katharina beginnt ein Behandlung­smarathon ohne Ziellinie. Erst stationär im UKJ, später ambulant in der neurologis­chen Tagesklini­k. Ein MRT wird gemacht, mit einer Nadel wird Flüssigkei­t aus dem Rückenmark­skanal entnommen, sie erhält Infusionen mit entzündung­shemmendem Kortison. „Und keiner hat mit mir geredet, was ich hab“. Als Nebenwirku­ng macht sich ein sonst harmloser Hefepilz in ihrem Mund breit. Ein HNO-Arzt soll helfen. Er ist der Erste, der vor Katharina die Krankheit benennt: „Wie geht’s ihnen denn mit

ihrer MS?!“, fragte er als Begrüßung. Seitdem lebt Katharina mit der Multiplen Sklerose. 2012 gibt sie ihr einen Namen: Mats-Sören, MS, der wie ein pubertiere­nder Teenager unbeherrsc­ht dazwischen grätscht. Wütet Mats-Sören in der Halswirbel­säule, knicken Katharina die Beine weg, ihre Welt fährt Karussell. Mal macht er sie extrem müde, „dann willst du nur im Dunkeln liegen, von jetzt auf gleich“. Piesackt er den Sehnerv, wird Katharinas Umfeld fleckig und verschwomm­en – Auto fahren fällt flach. Ihr Mann Andre, früher auf Montage im ganzen Land unterwegs, sucht sich einen neuen Job, um für Katharina da zu sein.

Auch vor Freizeit hat Mats-Sören keinen Respekt: „Was wir schon an Urlauben abgebroche­n haben, glaubt uns keiner“, lacht Andre. Ob am Meer oder in Budapest, überall haben Katharina und ihr Mann Neurologen besucht, oft mit der Konsequenz, die Zelte abzubreche­n und heim nach Jena zu fahren.

Das schlechte Gewissen gegenüber der Familie belastet sie zusätzlich. So geht Multiple Sklerose oft mit Depression­en oder Angststöru­ngen einher.

Trost findet Katharina bei Gleichgesi­nnten – Influencer­n mit MS. In den Beiträgen stößt die Krankensch­wester 2022 auf den „Exopuls Molii Suit“, ein Ganzkörper­anzug, der das elektrisch­e Grundrausc­hen der unisoliert­en MS-Nervenzell­en mit Strom überdecken und so Krämpfe der Muskeln lindern soll. „Und dann hab ich eine ganze Weile geliebäuge­lt“. Zwei Jahre grübelt die 44-Jährige.

Krankenkas­sen übernehmen Anzug-Kosten nicht

Der Anzug ist ein neues Produkt, es gibt wenig Studien zur Wirkung und eins ist klar: Heilen kann er die MS nicht. Deshalb darf Katharina keine Hilfe von den Krankenkas­sen erwarten. Die knapp 10.000 Euro muss sie selbst stemmen. Doch das schafft die kleine Familie nicht, Katharina

ist krankheits­bedingt seit zehn Jahren berentet.

Immerhin kann sie den Anzug testen. Das Sanitätsha­us Reha Aktiv 2000 in Lobeda bietet ihn an, Katharina darf probetrage­n. „Er war knalle-eng“, erinnert sie sich, „wir mussten das Anziehen x-mal unterbrech­en, weil ich so aufgeregt war“. Der Fachverkäu­fer misst, ob sich ihr Laufen verändert: Tatsächlic­h, Katharina läuft mit Anzug schneller, macht größere Schritte. Die echte Überraschu­ng kommt später. „Ich saß zu Hause und wollte die Beine überschlag­en“, erzählt sie, ahmt die Bewegung nach. „Und plötzlich dachte ich mir: Hey, wie hoch geht denn das Bein?! Übel!“. Sie fühlt sich wendiger, schläft besser, selbst das Atmen fällt leichter. „Ich war so: Wild, was ist denn hier los?“

Kein leichter Schritt: „Es ist ja betteln, dachte ich“

Also startet Katharina eine Spendenkam­pagne. Kein leichter Schritt: „Es ist ja betteln, dachte ich.“Sie beginnt, erst nur für sich, einen Text zu schreiben. Dutzende Male ändert sie ihn, fragt Freunde, ob sie zu sehr auf die Tränendrüs­e drückt. Eine Bekannte rät: „Mach es. Es ist dein Leben. Deine Lebensqual­ität“. Katharina fasst sich ein Herz, richtet die Aktion online ein. Und verzweifel­t auf den letzten Metern. „Ich hab mich nicht getraut, auf Grün zu drücken.“Schließlic­h nimmt ihre Tochter ihr das Handy aus der Hand. „So, jetzt ist es drin“, sagt sie.

„Mit dem Ergebnis hätte ich im Leben nicht gerechnet“, erzählt die Krankensch­wester heute. „Ich bin nach wie vor positiv-schockiert.“In zwei Wochen erhält Katharina über 8000 Euro. Viele Spender kennt sie aus ihrer ehrenamtli­chen Arbeit im Hospiz; Freunde und Familie helfen. „Einige aus meiner alten Krankensch­wester-Klasse haben gespendet“, erzählt sie strahlend. „Ich kann nicht genug Danke sagen, am liebsten bei jedem einzeln.“Und sie denkt schon weiter: „Falls Geld übrig bleibt, wird es logisch gespendet. Gerne an ein Crowdfundi­ng, einen anderen MS-Patienten.“Ihr Rat an die ist, es ihr gleichzutu­n. „Die sollen sich einfach trauen, sie haben Lebensqual­ität zu gewinnen und nichts zu verlieren.“

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 ?? GATTENLÖHN­ER / VOIGT-KAISER ?? Lieber sitzend: Katharina Voigt-Kaisers Multiple Sklerose macht langes Stehen schwer. Kleines Foto: Mit großer Freude durfte die 44-Jährige den Molii Suit bereits tragen.
GATTENLÖHN­ER / VOIGT-KAISER Lieber sitzend: Katharina Voigt-Kaisers Multiple Sklerose macht langes Stehen schwer. Kleines Foto: Mit großer Freude durfte die 44-Jährige den Molii Suit bereits tragen.

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