Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)
„Das ist die Sklaverei des 21. Jahrhunderts“
Die Jenaer Soziologin Tine Haubner hat in ihrer Doktorarbeit die Rolle von Laien in der Altenpflege untersucht und festgestellt, dass sie ausgebeutet werden
JENA. Die Jenaer Soziologin Tine Haubner hat sich in ihrer Doktorarbeit einem brisanten Thema gewidmet: der Ausbeutung ungeschulter Kräfte in der Altenpflege. Für ihre Untersuchung wurde die 33-Jährige für den Deutschen Studienpreis 2017 der Körber-stiftung nominiert. Wir sprachen mit ihr:
Wie sind Sie auf dieses Thema gekommen?
Ursprünglich ging es mir darum, mich aus soziologischer Perspektive näher mit Ausbeutung zu beschäftigen. Ich habe überlegt, wie könnte man das empirisch untersuchen, an welchem Beispiel. Denn Beispiele dafür gibt es viele, etwa die Goldminen in Ghana oder Kindersklaven. Ich dachte mir dann aber, dass ich lieber schaue, wie es vor unserer Haustür aussieht. Und interessanterweise war die erste Berufsgruppe, die sich unter dem Begriff „Ausbeutung“im Internet meldete, die Pflegebranche. Da bin ich hellhörig geworden, weil ich dachte, dass es doch verrückt ist, wenn gerade Pflegekräfte das Wort „Ausbeutung“in den Mund nehmen. Dann habe ich festgestellt, dass es zu den Arbeitsbedingungen von Fachpflegekräften schon sehr gute Untersuchungen gibt, zur Laienpflege aber wenig.
Mit wem haben Sie schließlich gesprochen?
Ich habe mich bei der Suche nach Gesprächspartnern an der Vorgehensweise des Sozialstaats beziehungsweise der deutschen Pflegepolitik orientiert. Das heißt, ich habe mir angeschaut, welche Gruppen von der Politik für Laienpflege verstärkt angesprochen werden. Und das sind klassischerweise pflegende Angehörigen, die immer noch das Gros der häuslichen Pflege leisten, seit den 90er Jahren verstärkt freiwillig Engagierte in der Pflege, zum dritten Langzeitarbeitslose, die seit 2008 zum Beispiel zu zusätzlichen Betreuungskräften ausgebildet werden, und die migrantischen Pflegekräfte. Also beispielsweise Frauen aus Osteuropa, die hier als sogenannte pflegerische Alltagshilfen in Haushalten mit Pflegebedürftigen tätig sind. Das sind die vier Gruppen, die ich untersucht habe.
Wie viele Interviews haben Sie führen können? Und wie haben Sie die Gesprächspartner konkret gewonnen?
Es waren 22 Interviews von je etwa anderthalb Stunden. Das ist eine qualitative Studie, das heißt, sie erhebt keinen Anspruch auf statistische Repräsentativität. In der qualitativen Sozialforschung beschränkt man sich auf eine kleine Fallzahl, führt aber sehr viel längere Interviews und geht in die Tiefe, weil man wissen will, was die Leute eigentlich meinen, wenn sie sagen: Ich fühle mich wie ein Roboter. Oder wie ein Dienstbote. Das ist zum Beispiel etwas, was die Angehörigen mir oft gesagt haben. Um die Gesprächspartner zu finden, war viel Recherchearbeit notwendig. Ich habe zum Beispiel stationäre Einrichtungen angeschrieben, aber auch viel im Umfeld politischer Aktivistinnen herumgefragt, wer wen kennt. Letztlich war es ein sehr weites Netz, denn ich habe in verschiedenen Bundesländern Interviews geführt.
Was ist die Quintessenz Ihrer Untersuchungen?
Wir können etwa seit den 90er Jahren beobachten, dass in Deutschland die Pflege durch Laien ganz gezielt durch verschiedene Instrumente gestärkt wird. Das wiederum ist eine Reaktion auf den Pflegenotstand, der ganz verschiedene Ursachen hat. Und genau diese Stärkung der Laienpflege würde ich aus einer sehr kritischen Perspektive als Ausbeutungsstrategie bezeichnen, weil durch die Indienstnahme überwiegend kostenloser Arbeitskräfte eine Pflegepolitik am Laufen gehalten wird, die sich auch im internationalen Vergleich durch Kosteneinsparung bei steigenden Pflegebedarfen auszeichnet.
Der Staat gibt sich zumindest den Anschein, als ob er pflegende Angehörige unterstützt: Es besteht inzwischen der Anspruch auf eine unbezahlte halbjährige Auszeit vom Job oder eine Reduzie rung der Arbeitszeit für die Dauer von bis zu zwei Jahren. Macht es sich die Politik damit nicht ziemlich leicht? Denn es ändert doch wenig an der grundlegenden Situation der Pflegenden. Etwa mit Blick auf die Altersarmut.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich sagen würde: Der Sozialstaat
macht es sich leicht. Das glaube ich eher nicht. In der Pflege hat die Politik in den vergangenen Jahren sehr viele grundlegende Umstrukturierungen vorgenommen. Der Staat ist hier sehr aktiv. Ich würde Ihnen aber dahingehend zustimmen, dass es – wenn überhaupt – nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist. Die durchschnittliche Pflegedauer in der häuslichen Pflege durch Angehörige liegt beispielsweise bei fünf bis acht Jahren. Wenn man sich das vergegenwärtigt, ist klar, dass es relativ wenig bringt, wenn man mal ein halbes Jahr im Beruf kürzer treten oder aussteigen darf.
Dazu kommt, dass wir jetzt zwar fünf Pflegegrade haben und auch Leistungen für Demente. Aber früher hatten die Leute 123 Euro Pflegegeld, jetzt sind es 316 Euro. Das ist beides noch weit unter Hartz-iv-niveau. Das heißt also, wenn ich einen demenzkranken Angehörigen rund um die Uhr zuhause betreue, habe ich ein hohes Armutsrisiko.
Haben Sie bestimmte Aussagen besonders erschüttert?
Ja, absolut. Am erschütterndsten waren die Gespräche mit den Alltagshilfen aus Osteuropa, weil die Frauen mir tatsächlich gesagt haben: „Das ist die Sklaverei des 21. Jahrhunderts“. Die Frauen sind zwar froh, in Deutschland arbeiten zu können, sie sagen auch, dass sie gerne in den Haushalten arbeiten und oft ein sehr inniges Verhältnis zu den Pflegebedürftigen haben. Trotzdem fühlen sie sich wie Sklaven. Und wenn man sich die Arbeitsverhältnisse anschaut, muss man sagen: Es stimmt leider. Die Frauen haben meist wenig berufliche Alternativen, verfügen nicht über eine ausreichende soziale Absicherung in ihren Herkunftsländern und kommen aus der Armut. Hier in Deutschland werden sie dann in Pflegehaushalten teilweise mit Schwerstfällen alleingelassen, müssen für die Verwandtschaft kochen oder schwere Gartenarbeiten leisten, obwohl das alles nicht in ihren Arbeitsverträgen steht.
Hinzu kommt, dass die meisten Laien für die Pflege gar nicht ausgebildet sind. Anders als ausgebildete Pflegekräfte haben sie nicht gelernt, wie man einen Menschen im Bett umlagert oder ihn in den Rollstuhl setzt. Und oft genug müssen Pflegende sogar ihre eigene Kompetenz überschreiten.
Dafür gibt es leider keine Zahlen, aber das war auch für mich einer der überraschendsten Befunde. Ich habe zum Beispiel mit einer Frau gesprochen, die ihre Angehörige selbst sondiert, also über eine Sonde ernährt. Da gab es diverse Komplikationen, die man sich am liebsten gar nicht vorstellen möchte. Aber das ist nicht nur eine häusliche Grauzone.
Das gibt es auch bei den freiwillig Engagierten und den zusätzlichen Betreuungskräften, die aus der Langzeitarbeitslosigkeit kommen. Weil sie sich verantwortlich fühlen und gute Betreuungsarbeit leisten wollen, müssen sie oft unter dem Druck des Fachkräftemangels die Fachpflegekollegen ersetzen. Wenn Kollegen ausfallen, müssen sie dann eben Pflegebedürftige waschen und lagern oder auch Menschen mit Dekubitus versorgen, obwohl sie das nie gelernt haben. Das ist ein rechtswidriger Arbeitskräfteeinsatz, es kommt aber permanent vor. Das ist längst ein offenes Geheimnis.
Was müsste die Politik denn Ihrer Meinung nach dagegen tun?
In erster Linie muss die Fachpflege in Deutschland dringend gestärkt werden. Wir brauchen in der Pflege einen sicheren Sockel – und das muss die professionelle Fachpflege sein. Und das bedeutet konkret: Die gesellschaftliche Wertschätzung des Altenpflegeberufs muss dringend verbessert werden, Lohnerhöhungen sind überfällig. Dann lässt sich auch weiter über die Professionalisierung dieses Berufes sprechen. Im europäischen Vergleich steht Deutschland nicht gut da: Nur 13 Prozent der pflegerischen Versorgung werden in Deutschland durch Profis erbracht, die Laienpflege überwiegt seit jeher. In anderen Sektoren, zum Beispiel der Medizin oder Justiz, käme niemand auf die Idee zu sagen: Wir haben jetzt so wenige Fachkräfte, also sollten wir das jetzt mal Freiwillige machen lassen. Aber die Altenpflege gilt eben immer noch als eine Jede-frautätigkeit. Das habe ich in allen Gesprächen, die ich geführt habe, permanent gespiegelt bekommen. Angeblich muss man das nicht können, man muss nur Herz haben.
Meine zweite Forderung wäre, dass wir die Pflegeversicherung grundlegend zu einer solidarischen Bürgerversicherung umbauen. So wie die Pflegeversicherung momentan aufgebaut ist – als eine Teilkaskoleistung, die nicht einmal die Hälfte der entstehenden Kosten deckt – produziert sie eine permanente Mangelverwaltung sowohl zu Hause in den eigenen vier Wänden als auch in den stationären und ambulanten Einrichtungen.
Und wenn das gegeben wäre – die Stärkung der Fachpflege und die Pflegeversicherung als Bürgerversicherung – könnte man die Pflege guten Gewissens durch Laienpflege ergänzen?
Genau. In Spanien zum Beispiel kann nur zur Pflegekraft ausgebildet werden, wer Abitur hat, die Ausbildung ist an den Unis angesiedelt. Ich halte es für einen ganz schlimmen Fehltritt, dass kürzlich durch das Pflegeberufereformgesetz die Generalistenausbildung beschlossen wurde.
Da sollen ab 2020 drei Berufe, also der des Altenpflegers, des Kinderkrankenpflegers und des Krankenpflegers, in eine dreijährige Ausbildung gequetscht werden, was auf lange Sicht einen Verlust von Tiefenwissen bedeutet. Es ist fraglich, ob das die Attraktivität des Pflegeberufes erhöht.