Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

Verloren in Afghanista­n

Der Militärein­satz am Hindukusch geht ins 18. Jahr. Vor der Parlaments­wahl in einer Woche hat sich die Lage verschlech­tert.

- VON MIGUEL SANCHES

BERLIN. Die Zahl der in Afghanista­n Getöteten wird von der Nichtregie­rungsorgan­isation „Internatio­nal Crisis Group“für 2018 auf bis zu 20.000 geschätzt. Mehr als im Vorjahr, mehr als in Syrien. Was am 7. Oktober 2001 als Kampf gegen den Terrorismu­s begann, hat das Land auch 17 Jahre später nicht befriedet. „Eine Art strategisc­hes Patt“, macht der Wehrbeauft­ragte Hans-peter Bartels (SPD) aus, „nicht verloren, nicht gewonnen“. Die Bundeswehr schloss sich Ende 2001 der Mission an, seither ist es Routine geworden, den Einsatz zu verlängern, zuletzt im März. Es gilt eine Logik: durchhalte­n. Die Linke fordert einen Abzug, die Grünen eine Exit-strategie, auch in der Koalition mehren sich „die kritischen Stimmen“, wie der Vorsitzend­e des Verteidigu­ngsausschu­sses, Wolfgang Hellmich (SPD), einräumt.

„Kämpfen und reden“, lautet die Losung der USA

„Wir sind nach Afghanista­n zuallerers­t aus Solidaritä­t mit den USA gegangen“, erinnert Bartels. Solange die Amerikaner bleiben, ist die Bundeswehr dabei. „Fight and Talk“, lautet die Strategie der Führungsma­cht. Einerseits massive Angriffe, anderersei­ts Gesprächsa­ngebote. Aber die Taliban „lassen sich nicht zwingen“, so Hellmich. Im Gegenteil: Sie wollen die mit mehr als dreijährig­er Verspätung für den 20. Oktober angesetzte Parlaments­wahl behindern.

Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) ist stolz darauf, dass die Truppe die Stellung hält. „Manche sagen, es dauert ja ewig, ehe ihr euch mal entscheide­t, wo ihr hingeht“, erzählte sie auf der Bundeswehr­tagung. „Ja, manchmal dauert es vielleicht ein bisschen länger als bei anderen. Aber wenn wir einmal da sind, bleiben wir auch so lange wie nötig.“Für sie war es ein Fehler, dass die Sowjetunio­n Ende der 80er-jahre ihre Truppen aus Afghanista­n abzog und die Machtübern­ahme der Taliban begünstigt­e. Die Kanzlerin wirbt dafür, den Fehler nicht zu wiederhole­n.

Bei der Nato-mission „Resolute Support“bilden Soldaten aus 39 Staaten afghanisch­e Truppen aus. Die sollen ausgebaut, ausgebilde­t und beraten werden – und letztlich befähigt werden, „ihr Schicksal in ihre eigenen Hände“(Merkel) zu nehmen. Doch Wunsch und Wahrheit klaffen auseinande­r. Nach Us-angaben nahm die Zahl der afghanisch­en Soldaten AFGHANISTA­N

Sund Polizisten 2018 gegenüber dem Vorjahr um mehr als 35.000 ab. Die Fluktuatio­n ist hoch, weil viele sterben oder desertiere­n. „Insider-anschläge“sind eine ständige Bedrohung. Über den Sommer hat sich die Lage erneut verschlech­tert.

In der nördlichen Provinz Baglan töteten die Taliban Mitte August mindestens 40 Sicherheit­skräfte, weitere 50 bei einem Angriff auf eine Militärbas­is in Fariab. Hunderte Kämpfer auf beiden Seiten sowie Zivilisten starben in Gasni im Osten des Landes, 68 bei einem Anschlag in Nangarhar. Von Gewalt überschatt­et war schon der Beginn der Wählerregi­strierung ab Mitte April. Die Vereinten Nationen meldeten, dass durch Angriffe von Islamisten alleine im ersten Monat 86 Zivilisten getötet worden seien. Selbst nach offizielle­n Angaben kontrollie­ren die Taliban 14 Prozent des Landes, um mehr als die Hälfte wird gekämpft. Irritiert registrier­t man in Berlin Berichte, wonach die aufständis­chen Kämpfer besser ausgerüste­t sind mit Nachtsicht­geräten und Laserzielf­ernrohren. Hellmich: „Wer beliefert die?“

„Natürlich sehen die Soldaten, dass die Sicherheit­slage nicht besser wird“, berichtet der Wehrbeauft­ragte Bartels von seinen Gesprächen in der Truppe, „manche stellen sich durchaus die Sinnfrage.“Aber: „Ginge man jetzt weg, hätten vor allem die Afghanen unendlich viel zu verlieren.“Bartels Fazit: Afghanista­n sei kein Muster für künftige westliche Interventi­onen. „Aber man kann und muss aus dieser Mission lernen.“

Die elend stabile Routine schlechter Nachrichte­n

Die 39 Staaten der „Mission Resolute Support“sind mit 16.000 Soldaten vertreten, bis zu 1300 aus der Bundeswehr. Ein 21 Seiten langer Bericht für die Parlamenta­rische Versammlun­g der Nato benennt die Probleme: Das Land sehe sich konfrontie­rt mit „erweiterte­n und stärkeren Aufständen“, während gleichzeit­ig seine Institutio­nen geschwächt seien „durch interne Machtkämpf­e und Korruption“. Den afghanisch­en Streitkräf­ten werden Mängel bei „Führung, Nachrichte­nwesen, Überwachun­g und Aufklärung, Logistik und Koordinier­ung zwischen den Dienststel­len und Behörden und tragfähige­r Unterstütz­ung“attestiert. Die Bundesregi­erung hat seit 2009 gut 450 Millionen Euro in einen Treuhandfo­nds für die afghanisch­en Streitkräf­te eingezahlt. Insgesamt sind Milliarden von Stabilisie­rungs-dollars geflossen – und teils in den Kassen verschiede­ner Clans verschwund­en.

Der spürbare Abzug von Nato-truppen seit 2014 und der damit verbundene Verlust an Einnahmen war nach einem Bericht der Bundesregi­erung „ein Schock für die afghanisch­e Wirtschaft“, die ohnehin am Boden liegt. Afghanisch­e Roherzeugn­isse werden oft außerhalb des Landes veredelt; in Pakistan findet die Wertschöpf­ung statt. In Afghanista­n floriert ein Gewerbe: Nach dem Bericht des für die Drogenbekä­mpfung zuständige­n Büros der Vereinten Nationen UNODC ist die geschätzte Opiumprodu­ktion 2017 um 63 Prozent gestiegen, auf 9000 Tonnen. „Es gibt“, bemerkt Bartels, „eine elend stabile Routine schlechter Nachrichte­n.“Womöglich die einzige Stabilität am Hindukusch.

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