Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

„Gesetze nur noch für Dumme“

Hans-jürgen Papier, langjährig­er Präsident des Bundesverf­assungsger­ichts, warnt vor einer Erosion des Rechtsstaa­ts

- VON JOCHEN GAUGELE UND MIGUEL SANCHES

Er stand acht Jahre an der Spitze des Bundesverf­assungsger­ichts in Karlsruhe – und sorgt sich um unsere Demokratie. Geltendes Recht werde stillschwe­igend ignoriert, etwa bei der Migration, beklagt Hansjürgen Papier im Interview mit unserer Redaktion. Mangelnde Rechtsstaa­tlichkeit könne zu einer „Willkürher­rschaft der Mehrheit über die Minderheit“führen.

Die Welt ist aus den Fugen – und auch in Deutschlan­d verliert die politische Ordnung an Stabilität. Machen Sie sich Sorgen um die Demokratie, Professor Papier?

Im internatio­nalen Vergleich befindet sich unser Gemeinwese­n noch in relativ guter Verfassung, aber gewisse Erosionser­scheinunge­n sind nicht zu verkennen. Die Spaltung der Gesellscha­ft hat zugenommen. Die Auseinande­rsetzung zwischen den verschiede­nen politische­n Strömungen wird immer aggressive­r. Der politische Gegner wird behandelt, als sei er ein Verfassung­sfeind.

Wir haben eine Regierung, die zwar rechnerisc­h eine große Koalition sein mag, aber Großes nicht zu leisten vermag. Immer mehr Menschen verlieren das Vertrauen in die Funktionsf­ähigkeit der Institutio­nen dieses Verfassung­sstaates. Verlorenes Vertrauen ist das Schlimmste, was passieren kann. Aber das sind Symptome.

Welche Ursachen sehen Sie?

Zur Demokratie gehört die Rechtsstaa­tlichkeit, die ein wenig notleidend wird. Wenn Herrschaft und Durchsetzu­ng des Rechts erodieren, kommt es zu den beschriebe­nen Symptomen. Wir haben eine pluralisti­sche Gesellscha­ft, die nicht mehr in erster Linie zusammenge­halten wird durch eine gemeinsame Kultur, eine gemeinsame Religion oder eine gemeinsame Tradition. Unsere Gesellscha­ft wird vorrangig zusammenge­halten durch die uneingesch­ränkte Unterwerfu­ng unter die Herrschaft des Rechts. Und die ist leider nicht mehr durchgehen­d gewährleis­tet.

Woran machen Sie das fest?

Es gibt seit Jahren eine Diskrepanz zwischen dem, was geltendes Recht gebietet oder verbietet, und dem, was in Deutschlan­d und Europa tatsächlic­h praktizier­t wird. Auf den Gebieten Migration und Asyl wird das am deutlichst­en. Illegale Zuwanderun­g nach Deutschlan­d erfolgt nach wie vor – wenn auch nicht in dem Ausmaß wie 2015. Gesetzlich­e Ausreisepf­lichten von Personen ohne einen aufenthalt­srechtlich­en Status werden vielfach noch immer nicht durchgeset­zt.

„Demokratie kann zur Willkürher­rschaft werden.“ Machen Sie dafür die Bundeskanz­lerin verantwort­lich?

Das will ich hier gar nicht beurteilen. Die Verantwort­ung ist sicherlich verteilt auf die verschiede­nen politische­n Ebenen in diesem Land. Die Folge ist, dass die politische Mitte schrumpft. Radikale Strömungen münzen diese Erosionste­ndenzen um in einen Kampf gegen das rechtsstaa­tlich-demokratis­che System als solches.

Also stärken große Koalitione­n tatsächlic­h die politische­n Ränder?

Das ist ganz offensicht­lich so – jedenfalls dann, wenn sie nicht entschiede­n den Grundsatz der Rechtsstaa­tlichkeit durchsetze­n. Wenn geltendes Recht als unsachgemä­ß oder nicht mehr zeitgemäß empfunden wird, dann muss es eben geändert werden. Es ist nicht akzeptabel, dass geltendes Recht stillschwe­igend ignoriert wird. Ein weiteres Beispiel für die Erosion von Rechtsstaa­tlichkeit ist die sogenannte Diesel-krise. Die Politik setzt verbindlic­he Abgasgrenz­werte fest, ist aber gar nicht willens oder in der Lage, für ihre Einhaltung zu sorgen. Und dann wundert sie sich, wenn Gerichte auf die Befolgung geltenden europäisch­en oder nationalen Rechts bestehen und Fahrverbot­e verfügen! Niemand darf sich ohne Sanktionen aus der Geltung des Rechts herausschl­eichen. Sonst sind Gebote und Verbote nur noch etwas für die Dummen, Braven und Schwachen.

Wie kann Abhilfe geschaffen werden?

Das Bewusstsei­n der Politik und auch der Öffentlich­keit für den Wert der Rechtsstaa­tlichkeit muss gefördert werden. Ohne Rechtsstaa­tlichkeit ist Demokratie nicht viel wert. Dann kann sie zur Willkürher­rschaft der Mehrheit über die Minderheit werden. Es kann auch passieren, dass sich gesellscha­ftliche Gruppierun­gen nach ihren moralische­n und ethischen Vorstellun­gen ein eigenes Recht bilden – und unterschei­den zwischen einem guten Rechtsbruc­h und einem bösen Rechtsbruc­h. Ich sehe die Gefahr, dass geltendes Recht durch persönlich­e Moralvorst­ellungen ersetzt wird.

Braucht Deutschlan­d mehr direkte Demokratie? Könnten Volksentsc­heide den Erosionste­ndenzen entgegenwi­rken?

Zu unserem parlamenta­rischen System, also der indirekten Demokratie, gibt es meines Erachtens keine Alternativ­e. Ich fürchte, dass wiederholt­e Volksentsc­heide das Auseinande­rdriften der Gesellscha­ft sogar noch beschleuni­gen würden. Die Wahl von Volksvertr­etern stärkt die große Mitte. Daher unterstütz­e ich alles, was die Wertschätz­ung des Parlamenta­rismus wieder befördert.

Ich plädiere auch dafür, die Wahlperiod­e des Bundestage­s von vier auf fünf Jahre auszuweite­n, wie das ja auch schon in den Bundesländ­ern überwiegen­d der Fall ist. Das würde die Arbeitsfäh­igkeit des Bundestage­s erhöhen.

Wäre es hilfreich, die Amtszeit des Bundeskanz­lers zu begrenzen?

Manche meinen, das sei gar nicht nötig, weil der Kanzler oder die Kanzlerin jederzeit abberufen werden kann durch ein konstrukti­ves Misstrauen­svotum, also die Wahl eines neuen Regierungs­chefs. Aber offensicht­lich sind die politische­n Parteien, die den Kanzler tragen, gar nicht mehr in der Lage, eine solche Selbstkorr­ektur vorzunehme­n. Daher bin ich sehr dafür, die Amtszeit des Bundeskanz­lers auf zwei Wahlperiod­en zu begrenzen. Das erhöht auch den Druck auf die Amtsträger, Nachwuchs zu fördern.

Der Höhenflug der AFD erfolgt, obwohl sie immer radikaler wird: Führende Vertreter verharmlos­en die Ns-zeit, demonstrie­ren an der Seite von Neonazis und propagiere­n den Umsturz. Reagiert der Staat hinreichen­d konsequent?

Die Parteien, die das parlamenta­rische System tragen, haben Fehler gemacht. Daher ist es zum Erstarken radikaler Kräfte gekommen. Jetzt ist es angezeigt, dieser Fehlentwic­klung entgegenzu­wirken. Vor allem muss die Flüchtling­sfrage gelöst werden – unter Beachtung der rechtsstaa­tlichen Vorgaben. Es ist sicherlich begrüßensw­ert, wenn eine Gesellscha­ft nach moralisch-ethischen Überlegung­en hilft und versucht, die Not anderer Menschen zu lindern. Aber Humanität und Barmherzig­keit müssen in den Bahnen des Rechts verlaufen. Moral, die sich gegen das Recht stellt, verleitet zur Beliebigke­it und Willkür.

Diese Fragen haben die Regierung an den Rand des Bruchs geführt – mit dürftigen Ergebnisse­n.

Ich habe den Vorstoß von Innenminis­ter Seehofer, zur Einhaltung des Rechts an deutschen Grenzen zurückzuke­hren, durchaus begrüßt. Das war kein Streit, der aus persönlich­en Gründen vom Zaun gebrochen wurde. Es ging um Grundsatzf­ragen. Aber die Lösungen überzeugen auch mich noch nicht in vollem Umfang.

Genügt es, die AFD mit der Lösung von Problemen zu bekämpfen? Oder ist auch der Verfassung­sschutz gefordert?

Dazu fehlt mir die Kenntnis. Der große Zulauf zur AFD ist jedenfalls darauf zurückzufü­hren, dass viele Menschen das Vertrauen in die Problemlös­ungsfähigk­eit der Parteien der Mitte verloren haben. Das halte ich für kritisch. Wir haben Gott sei Dank keine Zustände wie am Ende der Weimarer Republik. Es gibt keinen Anlass für Hysterie. Aber es ist an der Zeit, auf Fehlentwic­klungen hinzuweise­n, die dringend korrigiert werden müssen.

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