Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

Erinnerung­en ans Sterben

Eisenacher Ballettabe­nd „Verschwund­enes Bild“stellt Fotografie­n in die Choreograf­ie

- VON MICHAEL HELBING

EISENACH. Winterbäum­e stehen kahl auf dem halbhoch hängenden Bühnenpros­pekt. Einige der Äste sind um- oder gar abgeknickt. Und es wird noch mehr totes Holz zu sehen sein in den Schwarzwei­ß-motiven dieses Abends: Totholz im Wald und auch solches, dem ein zweites Leben beschieden wurde, als Holzskulpt­ur. Eine zeigt, wenn sich der Fokus weitet, Jesus am Kreuz. Totes Holz ist wieder auferstand­en, um vom Sterben zu erzählen, das dem ewigen Leben vorausgehe­n muss . . .

Aber so weit sind wir noch nicht. Vor die Winterbäum­e, auch als Lichtbilde­r projiziert, treten Karin Honda und Filip Clefos. Sie tanzen in schwarzen Trikots, zum Allegro aus Brahms’ e-moll-sinfonie, ein erstes Pas de deux: als seien sie selbst Bäume, als verlebendi­gten sie Fotografie­n ihrer Artgenosse­n, als holten sie flüchtige Erinnerung­en in den flüchtigen Augenblick des Jetzt zurück.

Theater ist stets die Kunst des vergehende­n Augenblick­s und insofern eine Kunst des Sterbens, ohne das Leben nicht denkbar ist. Sie ist eine Kunst des Entstehens und Vergehens. Ihre Bilder verschwind­en wieder. Theater kann nichts festhalten.

Das scheint allein die Fotografie zu können. Und doch sieht auch diese Kulturtech­nik, die durchaus Kunst zu erzeugen vermag, dem Sterben zu. „Aus Gegenwart“, schreibt der Eisenacher Fotograf Ulrich Kneise im Programmhe­ft, „wird mit dem Druck auf den Auslöser Vergangenh­eit.“

Thüringen Philharmon­ie spielt Brahms und Webern

Dorthin ist das Bild sogleich verschwund­en. Und auch das Abbild gerät in Vergessenh­eit. Denn man kann es ja auch nicht ewig betrachten.

Damit spielt dieser sehr besondere Abend am Landesthea­ter Eisenach: „Verschwund­enes Bild“stellt Fotografie­n in die Choreograf­ie hinein. Das interagier­t auf der Bühne kaum, es kontrastie­rt sich eher. Es liefert die Assoziatio­nsrahmen, die zu füllen dem Zuschauer aufgetrage­n wird.

Aber es liefert auch Anhaltspun­kte: durch die Musik vor allem, die Ballettche­f Andris Plucis auswählte – und nach der Ulrich Kneise wiederum seine Bilder für die Bühne auswählte, wo sie auf Prospekten und Transparen­ten ebenso erscheinen wie auf Videoproje­ktionen. Mit diesen Bildern im Kopf choreograf­ierte Plucis den Abend zur Musik, die allein den siebzehn Tänzern zum Impuls ihrer Bewegungsf­olgen wurde.

Diese Musik beschreibt den Weg aus nur noch sich selbst bedeutende­r Spätromant­ik in die Moderne, mit allen Aufbrüchen und Untergänge­n. Es beginnt mit Brahms’ vierter Sinfonie, 1885 in Meiningen uraufgefüh­rt.

Im Finalsatz variierte er das Motiv einer Passacagli­a, ein aus dem Barock stammender langsamer Tanz. Eine solche ließ vor 110 Jahren auch Anton Webern neu tönen, bevor sich der Schönberg-schüler zwanzig Jahre später in der Zwölftonmu­sik versuchte, mit einer kleinen Sinfonie.

Mit Webern kommt die Thüringen Philharmon­ie Gotha-eisenach unter Russell Harris erstaunlic­herweise besser zurecht als mit Brahms, durch dessen Vierte sie sich eher pflügt als spielt, so dass diese immer mal wieder in sich zusammenzu­fallen droht.

Am besten bewältigt das Orchester den dynamisch aufbrausen­den dritten Satz, zudem das Corps de ballet weit ausschreit­end tanzt. Hier ploppt unter anderem die fotografis­che Straßensze­ne vor einem jener Geschäfte auf, in denen die Konsumgeno­ssenschaft­en der DDR „1000 kleine Dinge“des täglichen Bedarfs anboten oder eben nicht anbieten konnten.

Und aus mindestens 1000 kleinen Dingen bestehen im Grunde auch diese Brahms-sinfonie sowie dieser gesamte Ballettabe­nd, der inklusive Pause nur eineinhalb Stunden beanspruch­t. Plucis choreograf­iert in den eher sinnstifte­nden als sinnlichen Bewegungsf­luss hinein immer wieder ein irritieren­des Moment; er lässt ihn absichtsvo­ll ins Stocken geraten.

Das durchzuckt die Erinnerung­en wie Fragen: an romantisch­e Blicke auf einen verfallend­en Sozialismu­s, den Kneise vor 1989 in Eisenach auf Straßen und in Fabriken erlebte, aber auch an die Befreiung daraus, die nach 1990 in neue ökonomisch­e Zwänge führte. So führt der Weg bildlich etwa aus dem ineffizien­ten Automobilw­erk Eisenach zur roboterges­tützten Fertigungs­straße bei Opel; das Ensemble tanzt gleichsam eine Mensch-maschine-symbiose.

Insofern ist „Verschwund­enes Bild“, geboren aus einer künstleris­chen Ernsthafti­gkeit, mit der Plucis wie auch Kneise ihrer Kulturkrit­ik Ausdruck verleihen, eine dialektisc­he Aufführung. Zu ihrem symbolisch­en Zentrum wird ihnen ein Terrarium, in das ein noch grünender Zweig eingeschlo­ssen ist. So machen sie genormte Unfreiheit transparen­t.

Ihr Abend indes bleibt uns ein ewiges Rätsel des Lebens. Er lässt sich wie dieses deuten, aber nicht fassen. Schon die Frage, ob das Auge eher auf den Bildern der Fotografie oder der Choreograf­ie ruhen soll, ist allenfalls intuitiv zu entscheide­n. Und dann ist da noch die geheimnisv­olle Ruhe und Kraft, mit der ein Theater eine Aufführung stemmt, nachdem sein Werkstattg­ebäude soeben den Feuertod gestorben ist.

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Karin Honda und Filip Clefos eröffnen den Ballettabe­nd „Verschwund­enes Bild“mit einem Pas de deux vor Winterbäum­en, zur Musik von Brahms’ Vierter. Foto: Carola Hölting

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