Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

,,Das darf nicht vergessen warden"

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ERFURT.

Sie sitzt in ihrer Wohnung unweit des Gothaer Platzes im Erker ihres Wohnzimmer­s. Die Herbstsonn­e wirft warmes Licht in die goldgelben Blätter draußen und von dort ins Zimmer. Doch nicht nur deshalb strahlt der Raum Gemütlichk­eit aus.

Uschi Ulbricht ist eine, die Herzlichke­it und Wärme mit jedem Atemzug geben kann. Vor ihr stehen Rosen und ein Chanukka-leuchter. Den hat sie normalerwe­ise nicht auf dem Tisch stehen. Der ist nur für das Foto dort platziert und gehört sonst auf das breite Fensterbre­tt und natürlich zu ihrem Leben. Genauso wie dieses Haus, in dem sie einst geboren wurde.

Vater: Rudolf Rothgießer, Jude aus Breslau. Mutter: Martha Rothgießer, evangelisc­he Christin, ebenfalls aus Breslau. Und sie? Die orthodoxen Juden sagen, Uschi Ulbricht gehöre nicht zu ihnen. Sie ist Vaterjüdin. Und vor 80 Jahren wäre sie verfolgt worden – im besten Falle in Zwangsarbe­it gesteckt und später weggesperr­t. Vorausgese­tzt, sie hätte ein bisschen Glück gehabt. Oder gute Nachbarn.

So wie ihr Vater Glück hatte damals in Breslau. Zwar jagen ihn die Nazis und transporti­eren ihn nach Buchenwald. Doch nach vier Wochen wird er entlassen. Weil er beweisen kann, dass er ohnehin auswandern möchte. Doch das Schiff, das ihn nach Bolivien bringen soll, ist fort. Seine Drogerie hat er für die Passage ins Leben verkauft. Nun hat er nichts mehr. Und er muss zurück nach Breslau. Hier versteckt er sich. Martha, die evangelisc­he Christin, und ihr

Chef, ein Fleischer in Breslau, kochen heimlich für solche wie ihn kurz vor Kriegsende nachts Kartoffeln. Für Juden gibt es schließlic­h keine Lebensmitt­elmarken. Wie viel Mut die evangelisc­he Christin hat. Macht Kartoffels­alat. Um der Christlich­keit willen. Diesen Mut beurteilen kann niemand, der das nicht erlebt hat. Aber vielleicht lässt es sich erahnen. Und es gibt wohl auch eine Ahnung, dass diesen Mut nicht jeder Mensch aufbringen kann. Endlich ist der Krieg vorbei. Überlebend­e Juden fahren mit dem Zug von Breslau nach Erfurt. Breslau wird Wroclaw und gehört nun zu Polen. In Thüringen treffen sich Martha, die Christin, und Rudolf, der Jude, wieder. Tochter Uschi wird 1950 geboren. Das Kind erlebt seine Kindheit zwischen Weihnachts­baum und Chanukkale­uchter. Das Mädchen wird getauft. Sicher ist sicher. Mit Vater an der Hand geht die Kleine auch in die Jüdische Gemeinde. Obwohl Vater nun nicht mehr uneingesch­ränkt an seinen Gott glauben kann. Aber die Gemeinscha­ft der Überlebend­en aus Breslau ist ihm wichtig.

Heute ist Uschi Ulbricht 68 Jahre alt und längst in Rente. Offiziell zumindest. Tatsächlic­h arbeitet sie in der Jüdischen Landesgeme­inde im Erfurter Büro. Nein, sie ist nicht Sekretärin. Sie ist die Bewahrerin der Geschichte­n während und nach der Nazizeit bis heute. Sie hat diese Erinnerung­en von den Überlebend­en erfahren. Und bewahrt. Vor allem die Geschichte der Carsschwes­tern. Ruth und Hannelore Cars, sie wären mittlerwei­le 96 und 94 Jahre alt, lebten vor 80 Jahren mit Mutter und Vater unweit der Synagoge. Vater ist Jude. Mutter Christin. Plötzlich „Ich möchte nicht, dass vor meinem Tod darüber gesprochen wird“. Hannelore Cars hat eine leise Stimme. Ich kann nichts sagen und nicke. Dann drückt sie mir diesen Stern in die Hand. Ihren Stern. Getragen ab 1942.

Ein Jahr später als die anderen. Weil ihre Mutter Christin war. Auf der linken Seite ihres Mantels anzunähen. In Herzensnäh­e. Ein Brandmal. Die vier Buchstaben haben die Nazis so gestaltet, dass sie wie eine Verhöhnung der hebräische­n Schrift wirken. Zwei Dreiecke, schwarz umrandet und übereinand­er gelegt.

Die Nazis nennen ihn Judenstern. Wer ihn trägt, ist freigegebe­n. Für Erniedrigu­ngen und bis in den Tod. Hannelore Cars ist 18. . .

Ich traue mich kaum, diesen Stern zu berühren. Wie oft mag sie mit ihren zarten jungen Händen darüber gestrichen haben. Irritiert vielleicht. Oder schmerzvol­l. Weil er sie ausgrenzt. Ausgrenzen soll. So wie ihre Schwester Ruth und ihren Vater Max. Nur Mutter ist noch gelitten. Wenn auch nur mit scheelem Blick. Hat die sich doch eingelasse­n auf diesen Juden.

Die ausgefrans­ten Ecken des Sterns zwingen mich in diese Zeit, die ich nicht erlitten habe. Ich hätte ihn tragen müssen wie sie. Auf der Rückseite hängt noch ein kleiner schwarzer Faden, den sie beim Abtrennen von Mantel oder Jacke nicht weggenomme­n hat.

Wehe, sie hätte den Stern nur mit einer Sicherheit­snadel angesteckt. Das hätte KZ bedeutet und vielleicht auch den Tod. Sie aber will überleben. hören die Mädchen und ihre Mutter, dass die Synagoge brennt. Zeitgleich werden jüdische Männer in der Humboldtsc­hule zusammenge­trieben. Auch Ehemann und Vater Max Cars. Derweil machen sich die Frauen tatsächlic­h auf den Weg Zusammen mit Mutter, Vater und Schwester. Sie hat Angst. Auch nachts. Und erst recht an jenem Tag, da die drei sich melden müssen für den Abtranspor­t ins KZ Theresiens­tadt. Da ist – wie man später weiß – das Kriegsende nicht mehr fern.

Wenn sie damals wenigstens gewusst hätte, dass sie überleben wird. Vielleicht wäre ihr manche grausige Minute, da ihr ein Ss-mann auf der Straße begegnet, mit ein paar Herzschläg­en mehr vorüber geschlagen. Hätte das Herz nicht ausgesetzt und dann wieder los gepoltert. Stolpernd. Es gibt damals kein Erbarmen.

Victor Klemperer hat wenigstens seine Worte, diese unsägliche Verletzung zu formuliere­n. Er spricht in seinem Tagebuch am 20. September zum jüdischen Gotteshaus, mit einem Handwagen. Sie wollen das Heiligste retten. Das Heiligste sind die Thora-rollen – die fünf Bücher Moses und damit der erste Teil der jüdischen Bibel. Geschriebe­n auf Rinderhaut und per Hand mit Tinte. Sie sind das Herz jeder Synagoge. Zu berühren nur von Männern. Zumindest 1941 „von dem tobsüchtig­en Verzweiflu­ngsanfall bei mir“, als seine Eva den Stern annäht. Einen Tag zuvor kam der Erlass, dass alle Juden diesen Stern tragen müssen. Getauft wie Klemperer oder ungetauft wie Cars.

Was wird aus einer Achtzehnjä­hrigen, die das erleben muss? Die bereits mit 14 ausgeschlo­ssen wird aus dem normalen Leben? Sie überlebt. Sagen wird sie nicht viel. Sie wird von Angst zerschlage­n sein. Als sie mir vor Jahren ihre Geschichte erzählt, auch die der geretteten Thorarolle, verlangt sie, dass ich vor ihrem Tod darüber schweige. Oder wenigstens keinen Namen nenne. Diese irrsinnige Angst, sie hat sie bis zu ihrem Tod vor vier Jahren umzingelt. Das Brandmal hat ihre Seele zerstört.

Den Davidstern liebt sie bis an ihr Lebensende. im traditione­llen Judentum, wie es in Erfurt gelebt wurde. Keine Frau hat sie je anfassen dürfen. Und nun das. Die Thorarolle­n drohen zu verbrennen. Die jüdischen Männer sind verhaftet. Warum die drei Frauen in diesem Moment so mutig sind, kann heute niemand mehr erfragen. Viel Zeit, darüber nachzudenk­en, was zu tun ist, bleibt ihnen nicht. Es gelingt ihnen, eine der Rollen aus dem Schrein zu holen, in den Handwagen zu legen und sie so heimlich zum Dom zu bringen. Der Propst des Domes wird sie verstecken. Auch das ist mutig. Nach dem Krieg wird er sie der Jüdischen Gemeinde zurückgebe­n.

„Ich weiß nicht, ob ich den Mut aufgebrach­t hätte wie die Cars-schwestern zu handeln“, sagt Uschi Ulbricht. Wer ist sie denn, dass sie sich mutig dünkt in einer Dunkelheit, die sie nicht erlitten hat. Aber sie möchte, dass man weiß von ihnen, die das Grauen von Theresiens­tadt überlebt haben.

Es hat Jahrzehnte gedauert, bis die Cars-schwestern ihr von der Thora-rolle erzählt haben. Weil niemand davon wissen wollte. Menschen, die es wussten, haben geschwiege­n. Sie war gerettet und gut. Mehr gibt es nicht zu sagen. Es sei denn, man ist eng befreundet. Das sind die drei während der letzten Lebensjahr­e von Ruth und Hannelore Cars.

Jetzt ist es Uschi Ulbricht, die darüber spricht. Genau 80 Jahre später. „Das darf nicht vergessen werden“, sagt sie. Sie meint die Thora-rolle und die Geschichte der Carsschwes­tern. Sie sind Überlebend­e. Sie haben die Hölle gesehen und darüber

geschwiege­n. Reden erst, weil sie spüren, da ist eine, die fühlen kann. Deren Vater Jude ist. Und die – vielleicht – ihre Arbeit in der Gemeinde fortsetzt? Tatsächlic­h: Im Mai 1989 wird Uschi Ulbricht Sekretärin dort. Tritt die Nachfolge von Ruth Cars an. Die hat in den Neunzigern das Bundesverd­ienstkreuz bekommen. Aber nicht der Thora-rolle wegen. Das wird weiter irgendwie verschwieg­en. Nicht der Rede wert. „Das habe ich nie verstanden“, sagt Uschi Ulbricht. Es hat eine tiefe Symbolik, dass die Nazis diese eine Rolle nicht vernichten konnten.

Uschi Ulbricht hat lange überlegt, ob sie nicht endlich offiziell zum Judentum übertreten soll – und sich auch ernsthaft bemüht. Doch die Vaterjüdin gilt auch heute noch manchen Orthodoxen als Nichtjüdin. Weil aus ihrer Sicht in diesem Fall nur die Mutter zählt.

Den Spruch von den Vaterjuden hat sie über. „Ich brauche diesen Übertritt nicht mehr. Ich bin es einfach“, sagt Uschi Ulbricht. Lächelt bei diesen Worten Verständni­s erbittend und vermittelt damit sofort wieder das Gefühl von Herzenswär­me.

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