Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

Thüringen, was nun?

Nach der Landtagswa­hl stellen sich viele neue Fragen. Wir versuchen, Antworten zu geben

- Von Martin Debes

Erfurt. Es kam am vergangene­n Sonntag so, wie die Umfragen befürchten ließen: Es gibt keine derzeit realistisc­h erscheinen­den Mehrheiten im Thüringer Landtag. Aber die Verfassung hat auch für diese Situation vorgesorgt. Hier die wichtigste­n Fragen und Antworten.

Warum gibt es keine Mehrheiten?

Dem neuen Landtag gehören 90 Abgeordnet­e an. Für eine Mehrheit sind also 46 Stimmen nötig. Die bisherige Koalition aus Linke, SPD und Grüne verfügt nur über 42 Mandate. Eine Vierer-koalition aus CDU, SPD, Grünen und FDP käme gemeinsam auf 39 Sitze. Linke und CDU besäßen zwar zusammen 50 Abgeordnet­e; aber diese Variante hat die Union ausgeschlo­ssen, obwohl es einzelne Stimmen in der Partei gibt, die dafür plädieren. AFD, CDU und FDP hätten gemeinsam 48 Sitze. Auch hier gibt es Unionsfunk­tionäre, die dies nicht ausschließ­en: Aber realistisc­h ist diese Variante nicht – zumal immer noch unklar ist, ob die FDP wirklich dem neuen Landtag angehören wird.

Wann hat die FDP Gewissheit?

Wahrschein­lich am 7. November. Dann soll das amtliche Ergebnis der Wahl verkündet werden. Aktuell werden alle strittigen Stimmzette­l, noch einmal kontrollie­rt, weil die FDP am Wahltag mit gerade einmal fünf Stimmen die 5-Prozent-hürde überwand. Die Zwischenst­ände aus den Wahllokale­n zeigen eher ein Plus: Dennoch besteht die Möglichkei­t, dass die FDP nicht dem neuen Parlament angehört. Dann stünde der Beschwerde­weg beim Landtag offen, um eine Neuauszähl­ung einzuforde­rn. Bei einer Abfuhr dort kann auch das Verfassung­sgericht angerufen werden.

Gäbe es denn ohne die FDP im Landtag eine realistisc­he Mehrheit?

Nein. Die Sitzvertei­lung würde sich zwar leicht ändern, auch das Überhangun­d das Ausgleichs­mandat könnten wegfallen. Aber für Rotrot-grün reichte es dennoch nicht. Und für eine Cdu-geführte Regierung sähe es nach dem Fehlen der FDP noch schlechter aus.

Wann tritt eigentlich der neue Landtag zusammen?

Die Verfassung besagt, dass sich das Parlament spätestens am 30. Tag nach der Wahl konstituie­ren muss – also bis zum 26. November. Dann ist ein neuer Landtagspr­äsident oder eine neue Landtagspr­äsidentin zu wählen. Erstmals steht das – nicht gesetzlich festgeschr­iebene – Vorschlags­recht der Linken als größter Fraktion zu. Als Favoritin für das Amt gilt Infrastruk­turministe­rin Birgit Keller. Interessan­t wird sein, ob es eine Mehrheit für einen Afdvizeprä­sidentin gibt, der Posten steht der Partei als zweitgrößt­er Fraktion zu.

Hat danach Thüringen noch eine Regierung?

Ja. Zwar endet mit dem Zusammentr­itt des neuen Landtags automatisc­h die Amtszeit des Ministerpr­äsidenten und seiner Minister. Aber Bodo Ramelow hat den Verfassung­sauftrag, die Regierungs­geschäfte weiterzufü­hren, bis der Landtag einen Nachfolger wählt oder ihn im Amt bestätigt.

Wie lange kann das dauern?

Theoretisc­h bis zur nächsten regulären Landtagswa­hl im Jahr 2024. Die Verfassung gibt hier keine Frist vor. Allerdings kann ein geschäftsf­ührendes Kabinett nicht umgebildet werden, es „versteiner­t“. Obwohl ansonsten eine geschäftsf­ührende Regierung alle Rechte hat, gebietet die politische Tradition in Deutschlan­d Zurückhalt­ung. So ist es unüblich, dass eine geschäftsf­ührende Regierung Gesetzentw­ürfe in den Landtag einbringt, zumal sie ja dort über keine tragende Mehrheit verfügt. Spätestens wenn es 2021 keinen gültigen Haushalt mehr gibt, könnte das Land Schaden nehmen.

Was sind die nächsten Schritte?

Spätestens nach Verkündung des amtlichen Endergebni­sses am 7. November können die offizielle­n Gespräche zwischen den Parteien beginnen. Linke, SPD und Grüne haben sich bereits informell getroffen, sie arbeiten ja auch weiter in der Regierung zusammen. Cdu-landeschef Mike Mohring hat angekündig­t, mit Ministerpr­äsident Ramelow reden zu wollen – aber nicht mit der Linken als Partei. Auch die FDP hat Gespräche mit der Linken ausgeschlo­ssen. Und: Niemand will mit der AFD reden, einzelne Abgeordnet­e ausgenomme­n.

Was kann da herauskomm­en?

Schlimmste­nfalls jahrelange­r Stillstand. Bestenfall­s in zwei bis drei Monaten eine Minderheit­sregierung. Derzeit spricht einiges für ein rot-rot-grünes Bündnis, das in wechselnde­n Mehrheiten mit Stimmen von CDU und FDP regiert.

Aber haben nicht CDU und FDP genau das ausgeschlo­ssen?

Nicht ganz. Die entscheide­nde Hürde ist die geheime Wahl des Ministerpr­äsidenten durch den Landtag. Hier sieht die Verfassung bis zu drei Wahlgänge vor. In den ersten zwei Wahlgängen benötigte Ramelow eine Mehrheit der Landtagsmi­tglieder – also 46 Stimmen. Im dritten Wahlgang ist der Kandidat gewählt, der „die meisten Stimmen“erhält. Hier könnten sich CDU und FDP enthalten – und so die Wahl Ramelows durch Linke, SPD und Grüne zulassen.

Und wenn sie auch im dritten Wahlgang mit Nein stimmen?

Selbst so kann Ramelow gewählt werden. Eine gängige, aber umstritten­e Interpreta­tion der Verfassung besagt, dass „meiste Stimmen“nicht bedeutet, dass der Kandidat mehr Ja- als Nein-stimmen erhalten muss. Gibt es also nur einen Bewerber, könnte er – theoretisc­h – sogar mit nur einer Ja-stimme gewählt sein.

Und was passiert bei zwei oder mehr Kandidaten?

Das vereinfach­te die Situation. Dann wäre klar, welcher Kandidat „die meisten Stimmen“hat.

Wer hätte hier die größten Chancen?

Ungewiss. Aber Ramelow besitzt einen enormen strategisc­hen Vorteil im dritten Wahlgang. Kandidiert er allein, ist er – siehe oben – womöglich automatisc­h gewählt. Variante 1: Tritt CDU-CHEF Mohring gegen Ramelow an, hätte er nur Erfolg, wenn die AFD für ihn stimmte. Auch wenn sich Mohring dann darauf berufen dürfte, dass bei einer geheimen Wahl nicht klar sei, wer für ihn stimmte: Dieses Vorgehen könnte seine Partei zerreißen. Variante 2: Treten sowohl Mohring als auch Afd-landeschef Björn Höcke gegen Ramelow an, könnte Ramelow mit einer klaren Mehrheit rechnen.

Was passiert dann?

Ist er erst einmal gewählt, kann er ohne weitere Zustimmung des Landtags eine Regierung ernennen. Für Gesetzentw­ürfe und Haushaltsb­eschlüsse benötigte er dann eine relative Mehrheit der Abgeordnet­en – und dies stets in offener Abstimmung. Das heißt, Rot-rot-grün wäre zumeist auf einige Ja-stimmen oder mindestens Enthaltung­en von CDU und FDP angewiesen.

Und wenn alles nicht klappt: Gibt es dann Neuwahlen?

Unwahrsche­inlich. Dafür wäre eine Zwei-drittel-mehrheit im Landtag nötig, also ein Ja von 67 Abgeordnet­en, die gerade einen anstrengen­den Wahlkampf hinter sich haben. Auch Linke, CDU, FDP, Grüne und SPD hätten daran kein Interesse, weil dann die AFD behaupten könnte, dass es die anderen nicht hinbekomme­n – und wahrschein­lich nochmals wachsen würde.

 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany