Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)
Thüringen, was nun?
Nach der Landtagswahl stellen sich viele neue Fragen. Wir versuchen, Antworten zu geben
Erfurt. Es kam am vergangenen Sonntag so, wie die Umfragen befürchten ließen: Es gibt keine derzeit realistisch erscheinenden Mehrheiten im Thüringer Landtag. Aber die Verfassung hat auch für diese Situation vorgesorgt. Hier die wichtigsten Fragen und Antworten.
Warum gibt es keine Mehrheiten?
Dem neuen Landtag gehören 90 Abgeordnete an. Für eine Mehrheit sind also 46 Stimmen nötig. Die bisherige Koalition aus Linke, SPD und Grüne verfügt nur über 42 Mandate. Eine Vierer-koalition aus CDU, SPD, Grünen und FDP käme gemeinsam auf 39 Sitze. Linke und CDU besäßen zwar zusammen 50 Abgeordnete; aber diese Variante hat die Union ausgeschlossen, obwohl es einzelne Stimmen in der Partei gibt, die dafür plädieren. AFD, CDU und FDP hätten gemeinsam 48 Sitze. Auch hier gibt es Unionsfunktionäre, die dies nicht ausschließen: Aber realistisch ist diese Variante nicht – zumal immer noch unklar ist, ob die FDP wirklich dem neuen Landtag angehören wird.
Wann hat die FDP Gewissheit?
Wahrscheinlich am 7. November. Dann soll das amtliche Ergebnis der Wahl verkündet werden. Aktuell werden alle strittigen Stimmzettel, noch einmal kontrolliert, weil die FDP am Wahltag mit gerade einmal fünf Stimmen die 5-Prozent-hürde überwand. Die Zwischenstände aus den Wahllokalen zeigen eher ein Plus: Dennoch besteht die Möglichkeit, dass die FDP nicht dem neuen Parlament angehört. Dann stünde der Beschwerdeweg beim Landtag offen, um eine Neuauszählung einzufordern. Bei einer Abfuhr dort kann auch das Verfassungsgericht angerufen werden.
Gäbe es denn ohne die FDP im Landtag eine realistische Mehrheit?
Nein. Die Sitzverteilung würde sich zwar leicht ändern, auch das Überhangund das Ausgleichsmandat könnten wegfallen. Aber für Rotrot-grün reichte es dennoch nicht. Und für eine Cdu-geführte Regierung sähe es nach dem Fehlen der FDP noch schlechter aus.
Wann tritt eigentlich der neue Landtag zusammen?
Die Verfassung besagt, dass sich das Parlament spätestens am 30. Tag nach der Wahl konstituieren muss – also bis zum 26. November. Dann ist ein neuer Landtagspräsident oder eine neue Landtagspräsidentin zu wählen. Erstmals steht das – nicht gesetzlich festgeschriebene – Vorschlagsrecht der Linken als größter Fraktion zu. Als Favoritin für das Amt gilt Infrastrukturministerin Birgit Keller. Interessant wird sein, ob es eine Mehrheit für einen Afdvizepräsidentin gibt, der Posten steht der Partei als zweitgrößter Fraktion zu.
Hat danach Thüringen noch eine Regierung?
Ja. Zwar endet mit dem Zusammentritt des neuen Landtags automatisch die Amtszeit des Ministerpräsidenten und seiner Minister. Aber Bodo Ramelow hat den Verfassungsauftrag, die Regierungsgeschäfte weiterzuführen, bis der Landtag einen Nachfolger wählt oder ihn im Amt bestätigt.
Wie lange kann das dauern?
Theoretisch bis zur nächsten regulären Landtagswahl im Jahr 2024. Die Verfassung gibt hier keine Frist vor. Allerdings kann ein geschäftsführendes Kabinett nicht umgebildet werden, es „versteinert“. Obwohl ansonsten eine geschäftsführende Regierung alle Rechte hat, gebietet die politische Tradition in Deutschland Zurückhaltung. So ist es unüblich, dass eine geschäftsführende Regierung Gesetzentwürfe in den Landtag einbringt, zumal sie ja dort über keine tragende Mehrheit verfügt. Spätestens wenn es 2021 keinen gültigen Haushalt mehr gibt, könnte das Land Schaden nehmen.
Was sind die nächsten Schritte?
Spätestens nach Verkündung des amtlichen Endergebnisses am 7. November können die offiziellen Gespräche zwischen den Parteien beginnen. Linke, SPD und Grüne haben sich bereits informell getroffen, sie arbeiten ja auch weiter in der Regierung zusammen. Cdu-landeschef Mike Mohring hat angekündigt, mit Ministerpräsident Ramelow reden zu wollen – aber nicht mit der Linken als Partei. Auch die FDP hat Gespräche mit der Linken ausgeschlossen. Und: Niemand will mit der AFD reden, einzelne Abgeordnete ausgenommen.
Was kann da herauskommen?
Schlimmstenfalls jahrelanger Stillstand. Bestenfalls in zwei bis drei Monaten eine Minderheitsregierung. Derzeit spricht einiges für ein rot-rot-grünes Bündnis, das in wechselnden Mehrheiten mit Stimmen von CDU und FDP regiert.
Aber haben nicht CDU und FDP genau das ausgeschlossen?
Nicht ganz. Die entscheidende Hürde ist die geheime Wahl des Ministerpräsidenten durch den Landtag. Hier sieht die Verfassung bis zu drei Wahlgänge vor. In den ersten zwei Wahlgängen benötigte Ramelow eine Mehrheit der Landtagsmitglieder – also 46 Stimmen. Im dritten Wahlgang ist der Kandidat gewählt, der „die meisten Stimmen“erhält. Hier könnten sich CDU und FDP enthalten – und so die Wahl Ramelows durch Linke, SPD und Grüne zulassen.
Und wenn sie auch im dritten Wahlgang mit Nein stimmen?
Selbst so kann Ramelow gewählt werden. Eine gängige, aber umstrittene Interpretation der Verfassung besagt, dass „meiste Stimmen“nicht bedeutet, dass der Kandidat mehr Ja- als Nein-stimmen erhalten muss. Gibt es also nur einen Bewerber, könnte er – theoretisch – sogar mit nur einer Ja-stimme gewählt sein.
Und was passiert bei zwei oder mehr Kandidaten?
Das vereinfachte die Situation. Dann wäre klar, welcher Kandidat „die meisten Stimmen“hat.
Wer hätte hier die größten Chancen?
Ungewiss. Aber Ramelow besitzt einen enormen strategischen Vorteil im dritten Wahlgang. Kandidiert er allein, ist er – siehe oben – womöglich automatisch gewählt. Variante 1: Tritt CDU-CHEF Mohring gegen Ramelow an, hätte er nur Erfolg, wenn die AFD für ihn stimmte. Auch wenn sich Mohring dann darauf berufen dürfte, dass bei einer geheimen Wahl nicht klar sei, wer für ihn stimmte: Dieses Vorgehen könnte seine Partei zerreißen. Variante 2: Treten sowohl Mohring als auch Afd-landeschef Björn Höcke gegen Ramelow an, könnte Ramelow mit einer klaren Mehrheit rechnen.
Was passiert dann?
Ist er erst einmal gewählt, kann er ohne weitere Zustimmung des Landtags eine Regierung ernennen. Für Gesetzentwürfe und Haushaltsbeschlüsse benötigte er dann eine relative Mehrheit der Abgeordneten – und dies stets in offener Abstimmung. Das heißt, Rot-rot-grün wäre zumeist auf einige Ja-stimmen oder mindestens Enthaltungen von CDU und FDP angewiesen.
Und wenn alles nicht klappt: Gibt es dann Neuwahlen?
Unwahrscheinlich. Dafür wäre eine Zwei-drittel-mehrheit im Landtag nötig, also ein Ja von 67 Abgeordneten, die gerade einen anstrengenden Wahlkampf hinter sich haben. Auch Linke, CDU, FDP, Grüne und SPD hätten daran kein Interesse, weil dann die AFD behaupten könnte, dass es die anderen nicht hinbekommen – und wahrscheinlich nochmals wachsen würde.