Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

Geisterzug fährt durch den Südharz

In Nordhausen darf niemand in die Wagen einsteigen. Der Freistaat begründet das mit zu geringer Nachfrage

- Von Marcus Voigt

Nordhausen. Wenn vom Bahnhof in Nordhausen um 4.30 Uhr ein Zug Richtung Göttingen startet, ist dieser an jedem Werktag menschenle­er. Auch an den Stationen Nordhausen-salza, Niedersach­swerfen, Woffleben und Ellrich steigt kein Fahrgast hinzu. Und das ist auch gar nicht möglich: Wie ein Geisterzug rollt die Regionalba­hn ohne Halt durch den Südharz. Erst in Walkenried in Niedersach­sen öffnen sich die Türen erstmals für Pendler und Reisende. Was sich kurios anhört, ist seit einem knappen Jahr gängige Praxis. „Es heißt immer, es solle etwas für den ländlichen Raum getan werden, sich dem Wegzug entgegenge­stemmt werden. Und dann so ein Ärgernis“, sagt Michael Reinboth, Sprecher der Initiative „Höchste Eisenbahn für den Südharz“. Er und seine Mitstreite­r, die seit vielen Jahren für bessere Zuganbindu­ngen in der Region kämpfen, können die Welt nicht mehr verstehen. „Man fühlt sich abgehängt und an der Nase herumgefüh­rt“, sagt Reinboth.

Dem Freistaat Thüringen ist die Verbindung zu teuer

Ein Blick auf die Zahlen stützt zunächst die Argumentat­ion der Initiative. 1743 Menschen aus dem Südharz pendeln zum Arbeiten nach Göttingen, wie aus einer Statistik der Regionaldi­rektion Sachsen-anhalt-thüringen der Bundesagen­tur für Arbeit hervorgeht. Viele der Beschäftig­ten sind im verarbeite­nden Gewerbe tätig. In Berufen also, in denen beispielsw­eise durch Schichtarb­eit frühe Arbeitszei­ten nicht unüblich sind. Das Thüringer Ministeriu­m für Infrastruk­tur und Landwirtsc­haft zeichnet hingegen ein anderes Bild. Seit 2014 habe der Freistaat die frühe Verbindung von Nordhausen aus nicht mehr bestellt, heißt es auf eine Anfrage. Die Begründung: Nur ein bis vier Fahrgäste hätten den Zug durchschni­ttlich genutzt. Eine Finanzieru­ng der Verbindung „würde in hohem Maß gegen die Wirtschaft­lichkeit und die Sparsamkei­t verstoßen, mit der öffentlich­e Mittel eingesetzt werden müssen“, heißt es aus dem Ministeriu­m. Dürften an den fünf Stationen Fahrgäste einsteigen, müsste der Freistaat 27,66 Euro pro Tag an die Deutsche Bahn zahlen, heißt es weiterhin. Hinzu kämen 5,32 Euro pro gefahrenem Kilometer. Für den Geisterzug liegen die Kosten derzeit bei knapp über drei Euro pro Kilometer. Bei den Gesamtkost­en für den Geisterzug will das Ministeriu­m nicht ins Detail gehen und spricht von 16.000 Euro pro Jahr für die Nutzung der Trasse.

Nordhäuser fahren mit dem Auto bis Walkenried

Michael Reinboth widerspric­ht dem Thüringer Ministeriu­m. „Es wird so immer behauptet, dass niemand den Zug nutzen würde. Den Beweis hat aber noch keiner erbracht“, sagt Reinboth. Er habe hingegen die Beobachtun­g gemacht, dass am Bahnhof in Walkenried in den frühen Morgenstun­den etliche Autos mit Nordhäuser Kennzeiche­n stünden. „Die Leute müssen mit dem Auto dorthin fahren, um dann den Zug nutzen zu können. Das ist doch Wahnsinn“, sagt Reinboth. Von Nordhausen bis zum Bahnhof in Walkenried sind es knapp 20 Kilometer. Doch warum fährt der Geisterzug seit vergangene­m Dezember durch den Südharz, obwohl ihn das Land Thüringen gar nicht will? Am Abend zuvor enden bis zu zwei Verbindung­en in Nordhausen. Die Fahrzeuge werden im Bahnhof betankt, kontrollie­rt und gereinigt. Am Morgen bilden sie dann den Geisterzug. Ein Teil wird in Ellrich abgekoppel­t, um wenig später nach Nordhausen zurückzufa­hren – dann aber mit Fahrgästen. Der andere setzt seine unwirklich­e Fahrt bis Walkenried fort. Wenn Reinboth ab und zu am frühen Morgen in Ellrich am Bahnhof steht, kommt ihn ein Vergleich in den Sinn. „Ellrich war früher Grenzbahnh­of, da durfte auch niemand in den Zug einsteigen“, sagt Reinboth. Im Dezember wollen er und seine Mitstreite­r dem Geisterzug zum einjährige­n Jubiläum gratuliere­n – in alten Grenzunifo­rmen. Wie es danach mit dem Geisterzug weitergeht, ist unklar. „Wir betrachten die Verbindung weiterhin genau, sind im Dialog mit den weiteren Akteuren und werden berechtigt­e Kritik selbstvers­tändlich aufgreifen“, so das Ministeriu­m.

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FOTO: CHRISTOPH KEIL Wenn am frühen Morgen in Nordhausen ein Zug Richtung Göttingen startet, darf niemand einsteigen.

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