Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)
„Angela, jetzt bist du dran“
Thüringens Mdr-hörfunkchef erinnert sich an die Zeit als Sprecher der letzten Ddr-regierung 1990. Da war die heutige Bundeskanzlerin seine Vize
Erfurt. Matthias Gehler, Jahrgang 1954, war von April bis Oktober 1990 Sprecher der einzigen frei gewählten Ddr-regierung. Er studierte Theologie, arbeitete bis 1987 als Pfarrer, danach als technischer Redakteur im Verlag „Neue Zeit“. Zugleich gab er als freischaffender Liedermacher Konzerte in der DDR. 1991 gehörte er dem Beraterstab des Rundfunkbeauftragten an, ist heute Chefredakteur im Mdrlandesfunkhaus in Erfurt. Herr Gehler, Sie bewahren eine Erinnerung an Angela Merkel auf. Es ist das Antwortschreiben der Kanzlerin auf ihr Stellenangebot vom April 1990? Ich habe den Brief noch zu Hause. Er ist handschriftlich und Angela Merkel teilt mir mit, dass sie noch eine Reise nach London vorhabe und danach ihren Job antreten werde. Damit hatte sie in der letzten Ddr-regierung unter Lothar de Maizière die Stelle als stellvertretende Regierungssprecherin angenommen. Wie ist Angela Merkel damals überhaupt in den Fokus ihrer Aufmerksamkeit geraten? Die SPD hatte im April 1990 schlicht vergessen, jemanden als meinen Stellvertreter im Regierungssprecheramt vorzuschlagen. Also kam von uns die Idee, Angela Merkel zu fragen. Sie hatte kurz zuvor die Aufgaben der Pressesprecherin beim Demokratischen Aufbruch übernommen. Ich lud sie im April 1990 zum Gespräch ein. Allerdings kann ich mich an diese erste Begegnung absolut nicht mehr erinnern. Sicherlich, weil das Treffen so unscheinbar war wie damals die Frau selbst. Ich machte ihr das Angebot, meine Stellvertreterin zu werden. Daraufhin schrieb sie mir den Brief. Ihnen beiden fehlte jegliche politische Erfahrung und sie mussten nun für die erste frei gewählte Ddrregierung das Sprecheramt stemmen. . . . . . das betrifft fast alle, die damals Verantwortung übernommen hatten. Die erste frei gewählte Volkskammer bestand in etwa zu 30 Prozent aus Ärzten, zu 30 Prozent aus Anwälten und zu 30 Prozent aus Theologen. Das waren Menschen, die in diesem sprachlosen Land gelernt hatten, zu reden und die sich schneller artikulieren konnten. In der Kirche hatten wir bereits Demokratie geübt. Daher die 30 Prozent Theologen. Vor Ihnen stand ja nun ein riesiges Arbeitspensum… Wir hatten etwa mit drei Jahren gerechnet und glaubten, schnell zu sein. Drei Jahre hieß damals schnell zu sein? Ja. Wir wussten, wir müssen viel regeln, weil die Systeme so unterschiedlich sind. Jeden Monat gingen Hunderttausende weg. Die DDR wäre innerhalb weniger Jahre leer gewesen. Deshalb mussten Verhältnisse entstehen, mit denen mindestens die Systeme etwas angeglichen werden. Doch die DDR endete dann deutlich schneller. Dass es gerade einmal sechs Monate werden würden, konnte keiner ahnen. In dieser Zeit hatte ich zwei Fahrer und die haben Überstunden gemacht. Ich weiß nicht, wann ich in diesen sechs Monate geschlafen habe. Es gab rund um die Uhr Termine und Arbeit, Arbeit, Arbeit... Wie verlief die Zusammenarbeit mit Angela Merkel? Die Zusammenarbeit war wirklich gut. Zunächst hatte ich noch eine ganze Menge selbst erledigt. Bin dann aber dazu übergegangen, ihr mehr Verantwortung zu übertragen. Wobei Angela Merkel nicht so die Öffentlichkeit gesucht hatte. Da musste man schon einmal sagen, Angela jetzt bist du dran. Aber sie hat ihre Aufgaben mit Bravour gemeistert. Sie hat dann auch selbst Pressekonferenzen abgehalten, zum Beispiel wenn ich Lothar de Maizière auf Staatsbesuchen begleitete. Wo sehen Sie Unterschiede bei der Kanzlerin von heute zu Angela Merkel von damals? Was Deutschland gutgetan hat, ist der Pragmatismus mit dem sie rangeht. Das zeigt ihre Regierungszeit noch immer. Ihre Art hat uns weltweit zu Ansehen verholfen. Was sie schon immer konnte, analytisch denken, vom Ziel her die Sachen betrachten – heute leider mit zu vielen Kompromissen. Wir waren im Umfeld von Lothar de Maizière Leute, die total selbstlos zusammengearbeitet haben. Dieses Protestantische, dieses Preußische, dieser selbstlose Einsatz, der haftete ihr an. Ich würde meine Hand für sie ins Feuer legen. Sich bereichern oder an sich selber denken, das ist bei ihr nicht der Fall. Wann wurde Ihnen bewusst, dass die letzte Ddr-regierung keine drei Jahre Zeit hat? Wir spürten das bereits vor dem Sommer 1990. Wir haben die drei großen Staatsverträge vorbereitet: den Vertrag zur Wirtschafts-, Währungsund Sozialunion. Dann den Einigungsvertrag und den Vertrag zu den Zwei-plus-vier-verhandlungen. Klar war dabei immer, sollten sich die Verhältnisse nicht sehr stark angleichen, verlassen die Leute weiter die DDR. Deshalb war dieser erste Vertrag so notwendig. Jeder hatte ab dem 1. Juli 1990 die Dmark, für die es einen eher politischen Umtauschkurs gab. Natürlich war der Kurs nicht realistisch bei dem, was wir wirtschaftlich vorgefunden hatten. Beschleunigte die Währungsunion das Absterben der DDR noch einmal? Es entstand sehr schnell eine hohe Arbeitslosigkeit, weil die Betriebe reihenweise dicht machten. Die Bauern marschierten vors Ministerratsgebäude, weil sie ihre privat gehaltenen Schweine nicht mehr gewinnbringend verkaufen konnten. Das war alles sehr schwer – auch für andere Bevölkerungsgruppen. Zudem musste die Gesetzeslage der DDR den Altbundesländern angeglichen werden. Das reichte bis hin zur Anerkennung von Berufsabschlüssen von Universitäten und Hochschulen oder den Renten. Und die Menschen drängten immer stärker auf den Beitritt. Der Druck war groß, und zum Schluss war uns auch klar, dass wir nicht noch einmal den 7. Oktober als Ddr-geburtstag feiern wollten. So wurde der Beitritt für den 3. Oktober beschlossen. Sagen Sie sich heute manchmal, da hätten wir damals anders entscheiden müssen? Ich maße mir das nicht an. Zumal uns völlig klar war, wir stehen als Ddr-regierung mit leeren Taschen da. In unserem Land lebten 16 Millionen Menschen, für die wir uns zuständig fühlten. Aber wir hatten materiell nichts einzubringen. Die Wirtschaft war ruiniert. Dafür verantwortlich war nicht die frei gewählte Ddr-regierung, sondern die Sed-politik. Welche Rolle spielte in dieser Zeit das Auflösen der Stasi? Wurde eine Gefahr gesehen, wenn beispielsweise Opfer von Tätern und Spitzeln erfahren? Wir waren uns damals einig, dass das ein großer Risikofaktor ist, auch weil die Bevölkerung sehr gespalten war. Die Folgen des Stasi-systems wirken noch bis heute nach. Ich denke, dass dieses Täter-opferdenken, dass das erfahrene Unrecht, aber auch das Leben in den Ddr-rechtsverhältnissen, bis heute eine Rolle spielt. Wir glaubten 1990 aber nicht daran, dass die Stasi noch irgendetwas organisiert, was gegen den Vereinigungsprozess läuft. Da hatten wir eigentlich alles im Griff. Wir begannen damals auch parallel schon mit Untersuchungen, wer zur Stasi gehört. Auch einige der 180 Mitarbeiter in unserem Regierungssprecheramt waren dabei, wie sich später herausstellte. Selbst der gesamte Personenschutz des Ministerrats gehörte dazu. Das waren Sportler und die waren automatisch Stasi-angehörige. Später hat sie Wolfgang Schäuble komplett übernommen. Man muss differenzieren, man muss fragen, was hat jemand gemacht – und man muss fragen, wer waren die Anstifter?das war die SED. Vermissen Sie manchmal die aufregende Zeit von damals, als täglich Neues passierte, fortlaufend Entscheidungen getroffen, immer wieder Verantwortung übernommen werden musste? Das hält keiner ewig aus. Wir haben schon gemerkt, dass wir Ruhe reinbekommen mussten und dass wir in Deutschland – besonders in Ostdeutschland – Verhältnisse benötigen, in denen wieder vieles geregelt ist. Ein Vorteil von Lothar de Maizière war, dass er als Anwalt und Jurist Bescheid wusste, wie Gesetze funktionieren. Wir haben damals sehr, sehr viel geregelt. Wir haben wahrscheinlich mehr beschlossen als jede andere Regierung. Das letzte Ddr-kabinett behandelte in den 173 Tagen seines Bestehens 759 Vorlagen. Unter Lothar de Maizière wurden 143 Verordnungen und 96 Gesetze verabschiedet und die drei Staatsverträge zur Wiedervereinigung ausgehandelt. Wir haben mit wenig Personal unheimlich viel erreicht. Das wäre im Westen undenkbar gewesen. Wie schauen Sie heute auf die Entwicklung in Deutschland? Da schwingt schon Stolz mit, bei dem was hier daraus geworden ist, aber auch aus Deutschland insgesamt. Wir sind wegen der Freiheit auf die Straße gegangen. Wir wollten Demokratie. Das haben wir. Und wenn man einmal den Wohlstand von heute mit damals vergleicht, glaube ich, die DDR hätte es nicht viel länger gemacht. Schauen Sie sich jetzt nur einmal Erfurt an. Thüringen hat in der Landtagswahl sehr polarisiert gewählt. Was bedeutet das für Sie? Wir sollten wachsam sein. Ich bin skeptisch, wenn jemand sagt, dass wir alle aus der Geschichte lernen. Die Zeitzeugen sterben, und wenn Geschichte weit weg ist, dann ist sie nicht erlebbar. Wachsam heißt, es darf uns nach zwei großen Kriegen, nach zwei Diktaturen, nicht passieren, dass wir alte Fehler erneut machen. Was ich besonders schlimm finde, wenn man leichtfertig damit umgeht, dass wir Deutsche sechs Millionen Juden umgebracht haben. Ich erwarte auch von nachfolgenden Generationen mehr Achtung, mehr Respekt vor den Opfern. Das ist konkret. Da kann man nicht neutral bleiben. Es geht um Demokratie und gegen Diktatur mit ihren Folgen. Dabei müssen wir die demokratischen Spielregeln wahren, selbst wenn es nicht immer einfach ist, zu erkennen, wo die Wege entlang führen. Wachsamkeit ist dafür das richtige Wort.