Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)
Sozialverbände begrüßen Hartz-iv-urteil
Bundesverfassungsgericht hält zu starke Kürzungen der Leistungen für verfassungswidrig
Thüringens Sozialverbände begrüßen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Hartz-iv-sanktionen. Die Karlsruher Richter hatten die Leistungskürzungen als teilweise verfassungswidrig eingestuft. Ab sofort dürfen nur höchstens 30 Prozent der Leistungen gestrichen werden. Der Paritätische Thüringen bekräftigt seine Forderung nach einer bedingungslosen Abschaffung der Sanktionen. Es brauche ein Hilfssystem nach dem Grundsatz „Fördern statt Strafen“. Auch das Thüringer Arbeitslosenparlament sieht in dem Urteil einen ersten Schritt und spricht sich für eine Neuausrichtung der Grundsicherung
aus. Zustimmung kommt ebenfalls von der Arbeiterwohlfahrt des Landes. Die Sanktionspraxis sei nicht geeignet, Menschen dauerhaft in den Arbeitsmarkt zu integrieren, so Landeschef Ulf Grießmann.
Der Thüringer Wirtschaftsverband (VWT) wertet das Urteil als eine Bestätigung des Prinzips „Fördern und Fordern“, weil es die Möglichkeit
von Leistungskürzungen grundsätzlich bestätige. Der Staat biete Hilfe an , müsse aber auch dasbemühen der Leistungsempfänger einfordern, so Vwt-hauptgeschäftsführer Stephan Fauth. Das Urteil geht auf Entscheidungen des Jobcenters Erfurt zurück, gegen die der Betroffene vor das Sozialgericht Gotha zog.
Es ist die wohl wichtigste sozialpolitische Entscheidung in diesem Jahr: das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe zu Hartz IV und der Frage, wie stark die Leistungen für Langzeitarbeitslose gekürzt werden dürfen. Jetzt ist klar, dass sie gekürzt werden dürfen, aber nicht mehr so stark wie bisher. Was das konkret bedeutet und was die Politik nun vorhat – die wichtigsten Fragen und Antworten zum Urteil aus Karlsruhe.
Wie hoch sind Leistungen für Empfänger von Hartz IV?
Wer lange arbeitslos ist und kein Arbeitslosengeld mehr bekommt, erhält im Rahmen der „Grundsicherung für Arbeitsuchende“das Arbeitslosengeld II. Für volljährige, alleinlebende Erwachsene sind das derzeit 424 Euro im Monat. Ab Januar 2020 steigt der sogenannte Regelbedarf auf 432 Euro. Volljährige Partner erhalten jetzt 382 Euro und ab 2020 389 Euro. Dazu kommen „Kosten der Unterkunft“, also Miete und Heizung, und die gesetzliche Krankenversicherung. Damit sichert der Staat das menschenwürdige Existenzminimum ab. Finanziert wird es aus Steuergeld.
Wann wurden diese Leistungen bisher gekürzt?
Das Sozialgesetzbuch II geht davon aus, dass Arbeitslose dabei mithelfen müssen, ihre Hilfebedürftigkeit zu beenden. Sie haben die Pflicht, sich um einen Job zu bemühen, bzw. dürfen angebotene Stellen nicht einfach ablehnen. Geschieht dies doch und kommen Arbeitslose dieser Pflicht nicht nach, kann das Jobcenter ihnen das Arbeitslosengeld kürzen. Die bisherige Rechtslage kennt mehrere Stufen: Versäumt jemand einen Termin im Jobcenter, können ihm Leistungen um zehn Prozent gekürzt werden. Stärker werden „Pflichtverletzungen“bestraft. Dazu zählt die Weigerung von Arbeitslosen, eine Stelle, eine Ausbildung oder ein Praktikum anzutreten.
Nach einer ersten Pflichtverletzung kann das Arbeitslosengeld II für drei Monate um 30 Prozent gekürzt werden. Nach der „ersten wiederholten Pflichtverletzung“binnen eines Jahres kann es drei Monate lang um 60 Prozent gekürzt werden. Nach jeder weiteren Pflichtverletzung können 100 Prozent des Arbeitslosengelds II gestrichen werden. Theoretisch könnten sogar
Miete, Heizung und Krankenkasse nicht mehr gezahlt werden. Die Betroffenen, deren Arbeitslosengeld II um 60 Prozent oder mehr gekürzt wird, können Sachleistungen oder Lebensmittelgutscheine beantragen. Bei unter 25-jährigen Arbeitslosen können Jobcenter noch stärker durchgreifen. Hier sieht die Rechtslage schon bei der ersten Pflichtverletzung Sanktionen vor.
Wie oft gibt es Sanktionen?
2018 haben die Jobcenter rund 904.000 Sanktionen verhängt. Davon betroffen waren 441.000 Menschen, denn manchmal wurden mehrere Sanktionen verhängt. Das waren 8,5 Prozent aller Hartz-ivempfänger. In 77 Prozent der Fälle gab es Sanktionen wegen nicht eingehaltener Termine. Im Durchschnitt wurden 109 Euro gestrichen.
Was hat das Gericht entschieden?
Das Bundesverfassungsgericht hat bestätigt, dass Arbeitslose mithelfen müssen, einen neuen Job zu finden. Sie müssen dabei auch geringwertigere Tätigkeiten annehmen. Weigern sie sich, darf der Staat ihnen die Leistungen auch vorübergehend kürzen. Das entspricht alles der Rechtslage. Neu ist, dass die
Richter für die Sanktionen nur einen begrenzten Spielraum zulassen, weil es um ein „menschenwürdiges Existenzminimum“geht. Dieses sei grundgesetzlich geschützt. Das bedeutet: Sanktionen wegen verpasster Termine um 30 Prozent sind weiterhin zulässig. Wird das Arbeitslosengeld II aber um 60 Prozent gekürzt, sei dies „unzumutbar, denn die hier entstehende Belastung reicht weit in das grundrechtlich gewährleistete Existenzminimum hinein“, urteilten die Richter. Das gelte erst recht bei einer kompletten Kürzung. Die Richter bemängelten auch, dass die Kürzung immer starr für drei Monate gilt – unabhängig vom Verhalten des Betroffenen. Es lägen bisher keine wissenschaftlichen Erkenntnisse vor, dass so starke Eingriffe die Arbeitslosen zur Mitwirkung motivieren würden.
Was bedeutet das Urteil konkret?
Die Bundesregierung muss die entsprechenden Paragrafen des Sozialgesetzbuchs II ändern, der Bundestag muss das dann beschließen. Eine Frist dafür gibt es nicht. Bis es so weit ist, hat das Gericht eine Übergangsregelung festgelegt. Sie gilt ab sofort und besagt: Sanktionen von 60 Prozent oder 100 Prozent
der Leistungen sind nicht mehr möglich. Geringere Sanktionen von zehn oder 30 Prozent kann es weiter geben. Unklar ist, für welche Zeit sie verhängt werden können. Wörtlich hat das Gericht formuliert: „Die Behörde kann die Leistung wieder erbringen, sobald die Mitwirkungspflicht erfüllt wird oder Leistungsberechtigte sich ernsthaft und nachhaltig bereit erklären, ihren Pflichten nachzukommen.“Daraus kann sich theoretisch auch eine längere Sanktionszeit als drei Monate ergeben. Gar nicht gelöst ist die Frage der Sanktionen für Arbeitslose unter 25 Jahren. Sie spielen in dem Urteil keine Rolle.
Was plant der Arbeitsminister?
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) sprach von einem ausgewogenen Urteil und nannte es eine „Riesenchance“, um Hartz IV zu reformieren. Heil wörtlich: „Mein Ziel ist, dass wir dieses System grundlegend verändern.“Der Minister kündigte an, dass er nicht nur die Vorgaben des Gerichts schnell umsetzen wolle, sondern dass er auch die Sanktionen für die unter 25-Jährigen entschärfen wolle. Die Menschenwürde der Unter-25-jährigen unterscheide sich nicht von der von 26-Jährigen, sagte Heil der ARD.
Verschlechtert das Urteil die Stimmung in der großen Koalition?
Davon ist auszugehen. Die von Arbeitsminister Heil angekündigte große Reform ist mit der Union nicht zu machen. „Eine sogenannte Totalrevision des Arbeitslosengeldes II ist nach dem heutigen Urteil nicht angezeigt“, sagte der Cduarbeitsmarktexperte Peter Weiß. Die wichtigste Botschaft aus Karlsruhe laute, dass das Prinzip des Förderns und Forderns erhalten bleibe.
„Mein Ziel ist, dass wir das System grundlegend verändern.“
Hubertus Heil (SPD), Bundesarbeitsminister