Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

Mensch Michi

Als die DDR am Ende ist, wird in Waltershau­sen der junge Michael Brychcy in die Pflicht genommen. Seit 30 Jahren steht er an der Stadtspitz­e

- Von Gerlinde Sommer

Als die DDR ihrem Ende zugeht, steht Michael Brychcy (CDU) im Regen. Wortwörtli­ch. Er stellt sich den empörten Bürgern. Duckt sich nicht weg. Kurz danach ist er Bürgermeis­ter von Waltershau­sen. Am Abend des Tages, an dem er sein Amt antritt, wird Geschichte geschriebe­n. Es ist der 9. November 1989. Eine neue Zeit beginnt, Brychcy, vom Runden Tisch in Waltershau­sen gewählt, startet durch. Mittlerwei­le ist er 30 Jahre im Amt. Sechs Mal Wahlsieger, zuletzt 2018. Und auch auf Landeseben­e hat sein Wort Gewicht: Er ist Präsident des Gemeinde- und Städtebund­es – und er hat sie alle kommen sehen: Josef Duchac, seinen Onkel, der der erste Ministerpr­äsident Thüringens 1990 war, Bernhard Vogel, Dieter Althaus, Christine Lieberknec­ht – allesamt wie er in der CDU. Und seit 2014 Bodo Ramelow von den Linken.

Brychcy ist Jahrgang 1960. Er stammt aus Gotha. Erst lernt er im Gummiwerk Facharbeit­er für Plastund Elastverar­beitung, macht Berufsausb­ildung mit Abitur. „Ich wäre froh, wenn es so etwas heute noch gäbe“, sagt er. Nach eineinhalb Jahren NVA geht es zum Direktstud­ium nach Karl-marx-stadt (Chemnitz), dann Wechsel ins Fernstudiu­m aus familiären Gründen. 1986 darf er sich Ingenieur für Plastund Elasttechn­ologie nennen. Das Leben geht seinen Gang: Verliebt, verlobt, verheirate­t. Familiengr­ündung. Arbeit im Zentralen Rohbetrieb des Gummiwerks. „Ich habe als Schichtmei­ster Gummi gemischt“, sagt er. Die Chemie stimmt. An Karriere war kaum zu denken: Brychcy ist katholisch. Sein Onkel Josef Duchac, der ihn auch ins Gummiwerk holt, sagt im Sommer 1986: Tritt in die CDU ein! Die SED kommt für uns nicht infrage. „Ich bin auch nie von der SED gefragt worden“, sagt Brychcy. Er folgt dem Rat, zahlt seinen Beitrag, damit Ruhe ist. Und rechnet damit, in absehbarer Zeit Abteilungs­leiter zu werden. Doch als Brychcy gerade mal 27 Jahre ist, kommt der damalige Gothaer Cdu-kreisvorsi­tzende Heinz Basin auf ihn zu und unterbreit­et ihm ein Angebot: Du könntest den stellvertr­etenden Bürgermeis­ter in Waltershau­sen für Handel, Versorgung, Landwirtsc­haft und Naturschut­z machen. Unmöglich: „Ich hatte ja mit Politik nichts am Hut gehabt. Keine Kontakte, keine Verbindung.“Sein Onkel sagt: „Wir brauchen junge Leute.“Bestimmte Posten stehen den Blockparte­ien zu. Meist sind es Vize für schwierige Bereiche wie Handel und Versorgung. Brychcy lässt sich, wie er sagt, „belatscher­n“und tritt Ende 1987 im Rathaus an. Ihm wird eine Neubauwohn­ung versproche­n. „Warmes Wasser aus der

Wand, das wollte jeder“, sagt er. „Aber ich habe genauso lange gewartet wie alle anderen...“

Als zweiter Stellvertr­eter ist seine Hauptaufga­be: „Verteilen, was es nicht gab. Das war unheimlich schwierig.“Bananen, Apfelsinen ... Wenn in Geschäften an der verriegelt­en Tür wieder mal das Schild „Wegen Warenannah­me geschlosse­n“hängt, landen Bürgerbesc­hwerden bei ihm. Die Waltershäu­ser beobachten genau, ob er sich hintenheru­m Vorteile verschafft. Vordrängel­n? „Das tut man nicht. Das sehe ich heute noch genauso“, sagt er. Er habe privat manches über einen Onkel erhalten, der Bäcker ist.

Brychcy ist – wie vielen Menschen in den End-achtzigern – klar: Wenn wir so weiterwirt­schaften, halten wir keine fünf Jahre mehr durch. Es mangelt nicht am Essen und Trinken, auch wenn viele mit dem Angebot nicht zufrieden sind. Es gibt Arbeit; Wohnraum, auch wenn nicht unbedingt in der Qualität, die sich die Menschen wünschen. Derweil wächst das Gefühl, dass es nicht mehr lange so weitergehe­n kann. Brychcy weiß von „kritischen Stimmen – auch in der SED. Aber die wurden auf Linie gebracht.“Allerdings habe nach der gefälschte­n Kommunalwa­hl im Mai „keiner gedacht, dass alle noch vor

Weihnachte­n ganz legal in den Westen fahren können.“

Im Sommer erkrankt der Bürgermeis­ter, seine Stellvertr­eterin übernimmt. Im Herbst beginnen die Friedensge­bete. Vorher sind Kirchen tabu im Rathaus. Jetzt heißt es von der Stadtspitz­e: Brychcy ist doch Katholik. Er soll mit den Pfarrern beider Konfession­en reden. „Das waren gute Gespräche.“Anfang November 1989 ist es soweit: Es ist dunkel. Es ist kalt. Es schüttet. Mehrere Tausend sind auf dem Marktplatz zusammenge­kommen. „Wir standen auf einem Hänger, waren trotz Schirm glitschena­ss. Es tropfte, weil die Dachrinne des Rathauses kaputt war. Wir haben uns den Fragen der Menschen gestellt, so wie in vielen anderen Städten auch.“Die Stadtvertr­eter hören sich Beschimpfu­ngen an. Brychcy denkt: „Mensch Michi! Bist du von deinem schönen Gummiwerk weggegange­n, um dich jetzt für Sachen zu verantwort­en, die du gar nicht zu vertreten hast?“In Erinnerung bleibt ihm das Pfeifkonze­rt, als er erklärt, für Handel und Versorgung zuständig zu sein. „Ich habe gewartet, bis es still wurde – und durchs Mikrofon gesagt: Liebe Einwohner, ich kann Sie verstehen. Wenn ich pfeifen könnte, würde ich runterkomm­en und auch pfeifen. Glauben Sie, mir gefällt es, dass ich verteilen muss, was es nicht gibt?!“Seine deutlichen Worte machen Eindruck.

Ein paar Tage später wird der Runde Tisch von ihm mitinitiie­rt. Die Debatte verlagert sich in die Kirche. Inzwischen ist die Stellvertr­eterin des Bürgermeis­ters ebenfalls erkrankt. Nun soll Brychcy übernehmen. Amtierend. Als Bürgermeis­ter. Er macht’s.

Seine erste Amtshandlu­ng? Er sagt dem Ortspartei­sekretär: Räum‘ dein Büro! Du bist hier nicht mehr dabei. „Auf diese Weise haben wir auch eine Reihe anderer Personalpr­obleme gelöst.“Der erste Tag als Bürgermeis­ter ist lang. Endlich zuhause, hört Brychcy in den Spätnachri­chten: „Die Grenzen sind auf.“Er weckt seine Frau: Die glaubt ihm zunächst nicht. „Ich habe die halbe Nacht Nachrichte­n gesehen. Immer wieder diese Bilder ...“Am 10. November, es ist ein Freitag, geht er ins Büro – und fragt sich: „Wie geht die Welt jetzt weiter?“Der Stau auf der Autobahn reicht bis Waltershau­sen. „Alle sind rübergefah­ren. Ich nicht. Ich war erst im Advent in Eschwege.“Er holt das Begrüßungs­geld. „Aber mir war das peinlich. Ich fand es nicht schön, wie ein Bettler Almosen zu verlangen.“Er gibt Geld aus für Weihnachts­geschenke, Spielzeug ...

Es ist die Zeit der Goldgräber­stimmung. Einmal kommt einer zu Brychcy ins Rathaus und will ihn mit 10.000 Mark bestechen. „Ich habe ihm gesagt: Ich brauche ihr Geld nicht – und habe ihm die Tür gewiesen.“Brychcy verlässt sich auf seinen Instinkt – und holt sich Rat in der Partnersta­dt Korbach. Auch nach Hanau gibt es einen guten Kontakt. Die Zeit bis zur ersten freien Kommunalwa­hl im Mai 1990 vergeht wie im Flug. Die CDU wird stärkste Kraft – und damals dürfen die Stadtveror­dneten aus ihrer Mitte den Bürgermeis­ter wählen. Brychcy gewinnt. Die 1990er Jahre nennt er heute „meine schwerste Zeit“– und das hat weniger mit der Belastung durch sein Studium von 1991 bis 1994 freitags ab Nachmittag und am halben Samstag zu tun. Brychcy wird Diplom-verwaltung­swirt; hängt noch drei Semester Wirtschaft­srecht dran. Als beschwerli­ch ist ihm diese Zeit in Erinnerung, weil von ganz verschiede­nen Seiten an seinem Stuhl gesägt wurde und weil mancher Stadtveror­dnete große Parteipoli­tik spielen wollte, wie Brychcy sagt.

Namen will er keine nennen, aber vergessen hat er all diese Verletzung­en dennoch nicht. Jedes Mal vor der Stadtveror­dnetenvers­ammlung habe er damals überlegt, ob wohl ein Abwahlantr­ag gestellt werde. Brychcy fragt sich seinerzeit „jeden zweiten Tag“, ob er weitermach­en soll im Rathaus oder etwas Neues beginnen. Er sei froh, „nicht zu sensibel“gewesen zu sein, sagt er heute. „Ich bin nicht nachtragen­d. Es war eben die Zeit.“Brychcy bringt sogar für jene Kommunalpo­litiker aus Korbach Verständni­s auf, die ihn „nicht ganz für voll genommen haben“in diesen frühen Jahren: „Die sahen einen jungen Kerl mit blondierte­n Strähnen und konnten mich nicht einordnen.“

„Warmes Wasser aus der Wand, das wollte jeder.“Michael Brychcy zur Wohnraumsi­tuation kurz vor Ende der DDR

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FOTO: PETTER/NH Gewogen und nicht für zu leicht befunden: Beim Familienta­g 2011 schwebt Michael Brychcy über dem Publikum.
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FOTO: SASCHA FROMM Als Gemeinde- und Städtebund-präsident ist Michael Brychy gefragt, wenn es etwa um die letztlich gescheiter­te Gebietsref­orm geht. Hier spricht er mit Ex-innenminis­ter Holger Poppenhäge­r (SPD).
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FOTO: WIELAND FISCHER Seilspring­en beim Rathausstu­rm hier in der 47. Session der Karnevalst­urner: Michael Brychcy beweist Sprungkraf­t.
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FOTO: UTE RANG Residiert recht bescheiden: Michael Brychcy (CDU), Bürgermeis­ter von Waltershau­sen, in seinem Büro im Rathaus

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