Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

Wendezeit nach 1989: Alles blieb anders

Zeithistor­ikerin Kristina Spohr stellt auf Schloss Ettersburg ihre große Studie zur neuen Weltordnun­g vor. So neu war sie demnach gar nicht

- Von Michael Helbing

Christa Wolf wollte nicht von Wende reden. Die Schriftste­llerin lehnte den vom neuen SEDCHEF Egon Krenz geprägten, bei einem Segelmanöv­er entliehene­n Begriff ab und schlug auf der Großdemons­tration am 4. November 1989 in Berlin „revolution­äre Erneuerung“vor.

Die Zeithistor­ikerin Kristina Spohr erwähnt das in ihrem über 900 Seiten starken politikges­chichtlich­en Werk, das gleichwohl „Wendezeit“heißt. Das ist weniger einem Kotau vor Krenz geschuldet als der Erkenntnis, dass letztlich eintrat, was er wollte, nur eben nicht östlichen Staatssozi­alismus, sondern den westlichen Kapitalism­us betreffend: Bei aller Veränderun­g in den „Scharnierj­ahren“1988 bis 1992 wollten die Verantwort­lichen „bewahren, modifizier­en, neuerfinde­n.“Alles blieb anders.

Gorbatscho­ws Reformen und die chinesisch­e Lösung

„Die Staatslenk­er spielten eine Schlüsselr­olle“, trug Spohr jetzt auf Schloss Ettersburg vor, „denn all diese Strömungen von unten mussten ja auch kanalisier­t werden.“Gorbatscho­w, Bush, Kohl: Sie alle organisier­ten eine neue Weltordnun­g, die so neu gar nicht sein sollte. Sie handelten, da niemand einen Plan hatte für die Umwälzunge­n und von Tag zu Tag entscheide­n musste, konservati­v: jeder auf seine Weise.

Die Nato blieb bestehen, die EG wurde zur EU, die Uno hatte „als Hauptautor­ität“, als die Gorbatscho­w und Bush sie im Irak-krieg 1991 verstanden, bald ausgedient. Alter Wein in neuen Schläuchen. Von revolution­ärer Erneuerung keine Spur, nirgends. Paneuropäi­sche Projekte, wie sie Hans-dietrich Genscher kurzzeitig verfolgte, blieben auf der Strecke.

Getrieben von der ökonomisch­en Misere der Sowjetunio­n, hatte Gorbatscho­w politische Reformen angestoßen, die letztlich ihn und seinen Staat selbst hinwegfegt­en. Dem gegenüber stand und steht die chinesisch­e Lösung: ökonomisch­e Reformen, keinesfall­s politische. „Trotz dieses triumphali­stischen Narrativs“, so Spohr, dass der Westen siegte, lägen in der Wendezeit „die Wurzeln einer komplizier­teren Welt“. Sie schreibt und spricht von „Konstrukti­onsfehlern der neuen Ordnung“.

Spohr betrieb viel Aufwand, unsere Lage heute aus der jüngeren Geschichte heraus zu erklären. Was daraus zukünftig folgt, bleibt ungewiss: „Wir sprechen ja nicht darüber, wofür stehen und in welcher Gesellscha­ft wir leben wollen“, kritisiert sie.

Kristina Spohr, „Wendezeit. Die Neuordnung der Welt nach 1989“, DVA Verlag, 976 Seiten, 42 Euro.

 ?? FOTO: MAIK SCHUCK ?? Kristina Spohr, die in London und Washington lehrt, war mit ihrem Buch „Wendezeit. Die Neuordnung der Welt nach 1989“am Mittwoch im Schloss Ettersburg zu Gast.
FOTO: MAIK SCHUCK Kristina Spohr, die in London und Washington lehrt, war mit ihrem Buch „Wendezeit. Die Neuordnung der Welt nach 1989“am Mittwoch im Schloss Ettersburg zu Gast.

Newspapers in German

Newspapers from Germany