Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)
Wie haben Sie den Mauerfall erlebt?
Der 9. November 1989 hat sich Zeitzeugen ins Gedächtnis gebrannt. Unsere Zeitung bittet Menschen um ihre Erinnerungen
9. November 1989, Pressekonferenz in Ost-berlin: Sed-funktionär Günther Schabowski spricht über neue Reiseregeln. Privatreisen ins Ausland könnten ohne Voraussetzungen beantragt werden. Ein Journalist hakt nach: „Ab wann tritt das in Kraft?“Schabowski, sichtlich überfordert: „Das tritt nach meiner Kenntnis... ab sofort, unverzüglich.“Es ist ein Satz, der an diesem Donnerstagabend um die Welt geht und den nicht nur viele Ddr-bürger mit einer Mischung und Unglauben und Staunen aufnehmen.
Wie haben Menschen aus der Region diese Zeit erlebt?
Endlich ein Walkman
Sabine Ackermann, Angestellte, Grabe: Ich war damals 16 Jahre alt und auf der EOS. Mit meinen Eltern habe ich die Nachrichten im Fernsehen gesehen. Weil mein Vater als Angestellter bei der NVA arbeitete, haben wir uns nicht getraut, gleich in den Westen zu fahren.
Am Freitagmorgen hat dann die halbe Klasse gefehlt. Kurze Zeit später wurde aus dem Geschichtsunterricht die „Geschichte der SED“verbannt und wir waren wieder bei Ur- und Frühgeschichte, weil die Lehrer nicht wussten, was sie uns beibringen sollten. Wir haben nach dem 9. November eine Woche auf die Genehmigung der Schule gewartet, sind dann nach Fulda gefahren. Ich wollte mir eine Bravo kaufen, die war aber schon ausverkauft. Ein Teil des Begrüßungsgeldes ging für einen Walkman drauf, auf der dann pausenlos Herbert Grönemeyer als Radio-mitschnitt lief.
Kein Zurück mehr
Falk Walther, Neurologe,
Mühlhausen: Es war eine sehr spannungsgeladene Zeit. Ich war Chefarzt der Neurologie in Pfafferode und in der Opposition. Das Ganze stand ziemlich auf der Kippe, weshalb die Nachricht aus dem Fernsehen für alle sehr überraschend kam – für Westdeutsche, für Ostdeutsche, für Grenzer, sogar für die meisten Politiker. Sogar Kollegen aus dem Ausland haben umgehend angerufen. In dieser Nacht habe ich kein Auge zu gemacht. Am Freitag nach dem Dienst bin ich nach Wendehausen Richtung Grenze. Die hat keiner mehr bewacht. Da dachte ich: „Es gibt jetzt kein Zurück mehr“.
Intensive Freundschaft
Anna Maria Luhn, Lehrerin
aus Mühlhausen: Zuerst dachten mein Mann und ich, dass die Ausreise nur denen sofort genehmigt werde, die sie beantragt hatten. Es hat eine Weile gedauert, bis wir begriffen, was da wirklich passiert. Am nächsten Morgen stand ich vor nur wenigen Schülern in der Klasse. Als der Grenzübergang Katharinenberg
öffnete, waren wir dann mit dabei. Es ging nach Wanfried und Eschwege. Sehr intensive Freundschaften haben sich in dieser Zeit entwickelt, die bis heute halten. Leider haben viele Menschen die Ereignisse verdrängt oder vergessen.
Skeptisch
Carmen Grunwald, kommissarische Leiterin der 3K-theaterwerkstatt: Ich war damals 22 Jahre alt und schwanger. Ich habe geweint und zu meinen Kollegen in der VEB Holzverarbeitung
gesagt: „Ihr wisst noch nicht, was da auf uns zukommt.“Die meisten fanden den überraschenden Fall der Mauer gut, aber es gab auch Skeptiker. In den Westen bin ist zum ersten Mal im Dezember 1989.
Als Zivi auf dem Sofa
Johannes Bruns, Oberbürgermeister von Mühlhausen
(SPD): Ich erfuhr vom Fall der Mauer auf dem Sofa meiner Eltern in Sundern im Sauerland sitzend aus den Heute-nachrichten. Ich war damals 22 und
Zivildienstleistender. Wir waren alle wie elektrisiert. Wir wussten, da bewegt sich was.
Ich bewundere bis heute die mutigen Menschen, die unter großer Gefahr auf die Straße gingen und für die Freiheit demonstrierten. Ich hatte damals Dienst im Krankenhaus und konnte nicht gleich in den Osten.
Seit 1985 bin ich mit meinem Bruder, der katholische Theologie studierte, jedes Jahr in die südliche DDR gefahren und lebe nun schon seit 23 Jahren in Thüringen.
Gegenbesuch
Jürgen Wand, Journalist, Mühlhausen: An diesem Abend habe ich eher durch Zufall im Gespräch mit Kollegen davon erfahren, bis ich die Tagesschau und die Aktuelle Kamera einschaltete. Ich arbeitete damals bei der Betriebszeitung der Mikroelektronik. Als ein paar Tage später die Grenze bei Katharinenberg aufgemacht wurde, waren wir da. Ein paar Wochen später kam die Verwandtschaft aus dem Westen zu Besuch. Sie blieben ein paar Tage hier, während wir zur gleichen Zeit als „Ostbesuch“nach Krefeld fuhren.
Wieder Anträge?
Reiner Engel, Geschäftsführer Diakonisches Werk Eichsfeldmühlhausen aus Bad Langensalza: Ich war zu Hause und saß vorm Fernseher. Ich habe die Pressekonferenz gesehen. Es war eine freudige Nachricht für mich, aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, direkt zur Grenze zu fahren. Ich nahm an, die neue Regelung sei auch mit Anträgen verbunden, ähnlich wie beim Besuch von Verwandten. Ein Glück, dass das nicht alle so verstanden haben.
Im Trabi nach Hof
Hardy Krause, Lehrer, Bad
Langensalza: Am 9. November spielten wir Karten im Zimmer eines Kommilitonen in Jena. Das Radio lief. Irgendwann haben wir das Spiel abgebrochen. Als klar war, dass die Leute über die Grenze gelassen werden, sind wir los. Der einzige Kommilitone mit Auto schlief, hatte nichts mitbekommen. Er war Judoka und glaubte uns erst nicht, hat uns fast verprügelt. Wir sind zum Grenzübergang Hirschberg gefahren. Zwischendurch mussten wir schieben. Wir sind gegen 23.30 Uhr problemlos über die Grenze, waren völlig baff und haben gejubelt. Dann sind wir nach Hof, kamen dort gegen 3 Uhr an. Wir hatten eine große Party erwartet, doch die Straßen waren leer. Also lungerten wir rum. In der Kirche gab der Pfarrer jedem von uns zehn D-mark. Davon haben wir uns bei einem Bäcker was zu essen gekauft. Gegen 10 Uhr sind wir zurück nach Jena. An der Grenze war die Hölle los – viele Menschen, Journalisten, Kameras. Wir waren die einzigen die nach Osten wollten.