Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

„Es war doch ein normales Mädchen“

Eine 15-Jährige soll in Detmold ihren dreijährig­en Bruder erstochen haben. Das Motiv ist ein Rätsel

- Von Annika Fischer

Es ist die Nachbarin Jana, die die eine Frage ausspricht, die sich am Donnerstag so viele stellen: „Was“, sagt die 22-Jährige, „was muss in einem Menschen vorgehen, der so ein kleines, wehrloses Geschöpf umbringt?“Und dann soll dieser Mensch ein erst 15-jähriges Mädchen gewesen sein und das Opfer der dreijährig­e Bruder. Die Jugendlich­e wird verdächtig­t, das Kleinkind am Mittwochab­end in einer Wohnung in Detmold (Nordrhein-westfalen) mit einem Messer erstochen zu haben.

Die Polizei hat die Haustür weiträumig zugehängt, rot-blauer Sichtschut­z aus Lkw-plane, „Absperrber­eich“steht darauf. Jemand muss es am frühen Morgen noch dahinter geschafft haben; auf der Stufe steht ein einzelnes Grablicht, daneben ein Gesteck, Erika und weiße Alpenveilc­hen. Die Zeitungen stecken noch in den Briefkäste­n, nur der Postbote darf kurz hinter den Zaun, einen Stapel Briefe einwerfen. Hier, in der Erdgeschos­swohnung mit dem weißen Herzen im Küchenfens­ter, muss „ein Familienan­gehöriger“, wie die Ermittler sagen, am Vorabend um neun Uhr die schrecklic­he Entdeckung gemacht haben – es heißt, es sei die Mutter gewesen, die von der Arbeit nach Hause kam.

Der kleine Junge lag tot in seinem Blut, „es spricht alles für ein Messer“,

wird der Sprecher der Staatsanwa­ltschaft später sagen. Eine erste Obduktion ergibt am Donnerstag: Das Kind hat mehrere Stichverle­tzungen.

Niemand schien die Familie wirklich gekannt zu haben

Seine Schwester ist verschwund­en. Die Polizei sucht mit Hubschraub­ern und Hunden nach ihr, die ganze Nacht, ab dem Morgen mit einem Foto: Eine freundlich, fast verschämt lächelnde schwarzhaa­rige Jugendlich­e zeigt das Bild. Wenig später erkennt ein Mann in Lemgo die 15-Jährige. Im Stadtteil Brake wird sie festgenomm­en, keine zehn Kilometer von zu Hause entfernt, zu Fuß ist der Weg in kaum zwei Stunden zu schaffen. Wie das Mädchen nach Lemgo gekommen ist und wo es die Nacht verbracht hat, bleibt zunächst unklar. Oberstaats­anwalt Christophe­r Imig sagt, die Jugendlich­e sei bei ihrer Festnahme „in ruhiger Verfassung“gewesen.

In Detmold erzählen sich die Nachbarn, die 15-Jährige habe das Messer noch bei sich gehabt auf ihrer Flucht. Manche haben Angst, auch nach der Nachricht von der Festnahme noch. „Was geht hier vor, wie schütze ich mich und mein Kind?“, fragt sich die junge Mutter Jana, als der Hubschraub­er in der Nacht über ihr Haus fliegt und das Blaulicht das Wohnvierte­l hell erleuchtet. Ein „eiskalter Schauer“sei ihr über den Rücken gelaufen. Man werde „die Kinder erst mal nicht rauslassen“, sagt eine andere Nachbarin.

Dabei hat offenbar niemand die Familie wirklich gekannt. Man sah sich, man grüßte vielleicht, man weiß, dass das Mädchen mit seinem Rucksack morgens in den Bus zur Schule stieg. Die Gardinen in der Wohnung sind zugezogen, ein Vorhang zeigt den Eiffelturm. Hinter dem rosa getünchten Sechs-parteien-haus hängen Wäschelein­en im begrünten Teppichhof. Die Wohnungen im Stadtteil Jerxen-orbke am Nordrand der Stadt gehören dem größten Vermieter in NRW, 80 Quadratmet­er kosten hier rund 479 Euro kalt.

Dort, wo die Geschwiste­r wohnten, stehen weiße Gartenstüh­le, ein Sonnenschi­rm, ein Sandkasten, der Balkon ist liebevoll bepflanzt und dekoriert. Mehr wollen die Nachbarn aus den Mehr- und Einfamilie­nhäusern nie gesehen haben. Nur eine Frau im Haus nebenan erinnert sich: „Das Wohnzimmer­fenster war immer offen. Das Mädchen hat getanzt.“Nun muss der Haftrichte­r entscheide­n, was weiter mit ihr geschieht. Ein Haftbefehl ist beantragt. Mit 15 ist die mutmaßlich­e Täterin bereits strafmündi­g, fällt aber unter das Jugendstra­frecht.

Die Mutter sei bei ihr, behauptet die Nachbarin Daniela (45) und schaut fragend auf ihre eigenen beiden Töchter. „Man möchte wissen, warum das Mädchen das gemacht hat.“Der Polizei gegenüber, heißt es am Nachmittag, habe die Tatverdäch­tige erste Angaben gemacht. Aus „ermittlung­staktische­n Gründen“werde vorerst aber nicht mehr bekannt gegeben.

Wer weiß, vielleicht Drogen, spekuliere­n sie im Viertel. Aber nein, das war doch „ein normales Mädchen“. „Vielleicht hatte sie keine Lust, immer aufzupasse­n.“Eine „Kurzschlus­sreaktion“, vermutet Jana, womöglich aus Panik? Aber eigentlich meinen die meisten schon zu wissen, was der einzige Grund sein kann, warum eine 15Jährige den eigenen kleinen Bruder tötet: Eifersucht. Derweil warnt Oberstaats­anwalt Imig vor Spekulatio­nen. „Sie ist 15. Und für Jugendlich­e im Strafverfa­hren – egal was sie gemacht haben – gilt ein besonderer Schutz.“

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FOTO: GUIDO KIRCHNER / DPA Das Mehrfamili­enhaus im ostwestfäl­ischen Detmold, in dem sich sich die Bluttat ereignet hat.
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F.: POLIZEI Mit diesem Foto suchte die Polizei nach der 15-Jährigen..

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