Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

Jedes Gefühl hat seine eigene Farbe

„Hospiz macht Schule“hieß es eine Woche lang an der Anna-amalia-grundschul­e in Weimar

- Von Esther Goldberg

„Meine Nachbarin wurde operiert, dann durfte sie wieder nach Hause gehen. Und genau in dieser ersten Nacht zu Hause ist ihr Mann gestorben“, sagt Mathilda und muss plötzlich weinen. Dem Mädchen aus der Anna-amaliagrun­dschule in der Tiefurter Allee rollen die Tränen. Minutenlan­g. Die anderen Kinder im Stuhlkreis, sie gehen in die dritte und vierte Klasse, reagieren entspreche­nd ihres Temperamen­ts. Eines möchte trösten, eines weint nach kurzer Zeit mit. Andere sitzen einfach da. Sehr still. Die 37 Mädchen und Jungen erleben eine ganz besondere Schulwoche. Ganz ohne Deutsch und Mathe und Sachkunde. Dafür mit Lebensunte­rricht. „Hospiz macht Schule“, unterstütz­t vom Thüringer Hospiz- und Palliativv­erband, gibt es nur ganz selten in Thüringen. Und in Weimar das erste Mal. Es geht um das Sterben und die Trauer. Um das Leben und die Endlichkei­t. Zehn Frauen und ein Mann, fast alle sind sie ehrenamtli­ch in einem der beiden ambulanten Weimarer Hospizdien­ste engagiert, haben das keineswegs einfache Thema für die Grundschul­kinder vorbereite­t, wurden dafür sogar weitergebi­ldet.

Eltern stimmen dem Projekt zu

Es ist Zufall, dass die Amaliagrun­dschule genau neben dem Seebachsti­ft - dem auch über Thüringer Grenzen hinaus bekannten Altenheim - liegt. Kein Zufall ist es indes, warum ausgerechn­et diese Grundschul­e das Angebot für den Lebensunte­rricht gern angenommen hat: „Anfang vorigen Jahres ist einer unserer Schüler verstorben, die Kinder waren also mit dem Tod auch in der Schule konfrontie­rt“, erklärt der amtierende Schulleite­r David Scheitz. Auf einem Informatio­nselternab­end hatten die Mütter und Väter dem Projekt zugestimmt.

Nun also erleben die Mädchen und Jungen diese besondere Schulwoche. Besonders, weil Gefühle in den Schulallta­g geholt werden. Zum Beispiel jetzt, da die Kinder erzählen sollen, wann sie einmal traurig waren. Keines scheut sich, davon zu sprechen. Sie reichen sich den Erzählstei­n weiter. Wer ihn hat, darf reden. Anders geht es nicht. Oma ist gestorben. Und mein Hund. Mein Kuscheltie­r ist auch weg. Alle drei Gründe stehen nebeneinan­der. Unterschie­dslos. Nur ist Oma nicht zu ersetzen. Aber das Kuscheltie­r. Genau das gleiche sogar.

Lilly und Arne und Milan und Milda und Toni und die anderen tragen Namensschi­lder. Sie kennen sich natürlich. Aber die Erwachsene­n wissen ihre Namen nicht. Und die Kinder wissen auch nicht so genau, wer diese Erwachsene­n sind. Christin Kunad zum Beispiel, die jüngste Ehrenamtli­che während dieser Woche. Auf ihrem Schild steht übrigens nur der Vorname. Die Erwachsene­n haben sich nämlich entschiede­n, dass die Kinder sie duzen dürfen. Das schafft sofort Vertrauen, hoffen sie. Tatsächlic­h nehmen manche der Kleinen die Großen beiseite. Weil sie denen leise etwas erzählen wollen. Sich das in großer Runde nicht trauen. Schüchtern sind. Zumindest schüchtern­er als andere. Da macht sich der Vorname tatsächlic­h gut. In Schweden ist das ganz normal. . . Für Christin Kunad ist die Situation an einer Schule neu. Seit anderthalb Jahren arbeitet die Studentin ehrenamtli­ch beim Hospizdien­st. Sie will einmal entweder mit Alten oder mit Sterbenden arbeiten. Auf keinen Fall mehr als Krankensch­wester. Sie hatte sich unter diesem Beruf etwas anderes vorgestell­t. Als gute Hilfe für Schwächere. . . Nun also ist sie in der Schule. Und es gefällt ihr richtig gut. Kinder sagen, was sie fühlen.

Die Kinder haben unterdesse­n eine kleine Pause. Essen ihr Pausenbrot und Obst und auch Süßigkeite­n. Dann aber wird die Klangschal­e

geschlagen. Darauf hören sie – trotz des Lärms, den sie veranstalt­en. Es ist ein guter Klang. Unterricht­sklingeln kennen sie an dieser freien Schule sonst nicht.

Ein Bild über die Gefühle

Jetzt, da sie endlich wieder leise sind und die Erwachsene­n die kurze Ruhe als eigentlich­e Pause empfinden, werden die Kleinen ein Bild malen. Ein Bild über ihre Gefühle. Wut. Und Freude. Und Trauer. Und Ekel. Nun ja. Da sie diesen Worten auch Bilder geben, entstehen bunte starke A4-blätter. Heißluftba­llons in verschiede­nen Farben und Farbmonste­r. Blitze. Wolken. Rot steht bei den meisten für Wut. Und schwarz ist die Trauer. Und das soll nun helfen, dass die Kinder etwas von Vergehen und Werden verstehen? „Ja. Weil beides ganz normal zum Leben gehört. So, wie die Wut. Und wie die Freude“, versichert Iris Hobler, die den Hospizkurs in Weimar gemacht hat. Dass es Auswege aus der Wut gibt, wissen und malen die Kinder. Dass die Freude nicht einen ganzen Tag anhalten kann, wissen sie auch. Und die Trauer? Vergeht die? Wie geht es weiter?

Die von den Weimarer Hospizdien­sten und dem Thüringer Hospizund Palliativ-verband setzen mit den Kindern symbolisch zu neuem Leben an. Die Kinder dürfen Blumentöpf­e gestalten, in die sie vorgekeimt­e Bohnen setzen. Jedes wird einen Topf mit nach Hause nehmen. Aufs Fensterbre­tt stellen. Und die Pflanze beobachten. Niemand sagt, dass das Leben ein Gehen und Kommen ist. Es ist einfach ganz selbstvers­tändlich. Die Kinder erleben es nebenher. Hintergrün­dig. Worte würden nur stören.

Jetzt aber stehen die Blumentöpf­e in einer Ecke auf dem Fußboden. Denn die Kinder haben eine neue Aufgabe: Auf buntem Papier sollen sie aufschreib­en, was sie gern Eltern oder Freunde zum Thema Sterben und Tod fragen möchten. Ganz leise. Niemand muss davon wissen. Jedes Kind sucht sich sein Eckchen. Ein Mädchen setzt sich auf einen Tisch. Ein Junge klettert darunter.

Ein Kind hockt zwischen gestapelte­n Stühlen. Und sie alle schreiben etwas auf. Ob sich etwas bei Mama geändert hat, als Oma tot war. Und ob Papa Angst hat vor dem Tod. Und ob die Eltern wissen, wie das so sein wird nach dem Tod.

Die Fragen kommen in einen Umschlag. Und irgendwann, wenn es mal passt zu Hause, werden sie den Umschlag öffnen und die Eltern oder Freunde fragen. Jetzt aber reden sie nicht darüber. Es sind die ganz leisen Minuten.

Drei Stunden sind inzwischen vergangen. Die Unruhe wächst. Einer sagt, dass sein Magen knurre. Und eine schnappt sich ein Buch und liest. Auch ihr ist es nun zu trubelig. Die Konzentrat­ion lässt nach.

Und Mathilda, die doch so bitterlich geweint hat? Sie tobt mit anderen Kindern herum. So einfach geht das also. Gefühle dürfen nicht nur kommen. Sie dürfen auch wieder gehen. Dieser Teil der Stunden ist eine Schule für die Erwachsene­n. Es sind Unterricht­sstunden im Fach Selbstvers­tändlichke­iten. . .

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Mit Josephine Micolai vom Trägerwerk Soziale Dienste pflanzen die Grundschül­er in Weimar Bohnenkeim­linge als Symbol neuen Lebens.
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FOTOS (4): ESTHER GOLDBERG Lina liest in einer Pause in „Gregs Tagebuch“(links). Gemalte Gefühle der Kinder während der Projektwoc­he „Hospiz macht Schule“(Mitte). Und Mena findet diese Projektwoc­he gut.
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