Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)
Nachhilfe in Ossi-kunde
In Weimar sind Birk Meinhardts „Brüder und Schwestern“zu erleben – als Familiendiskurs
Da sitzen zwei Mimen beim Mau-mau-spiel am Katzentisch der Geschichte. Lutz, geboren in Magdeburg und langjähriger Staatsschauspieler in Dresden, fragt Nahuel, geboren in Buenos Aires und ausgebildet in München, warum sich der Westen kaum für den Osten interessiere. Man merke es doch schon an der Sprache, da herrsche „ein Ungleichgewicht im Mühegeben“. Dabei sei man doch im Westen „eifriger, strebsamer, folgsamer“, vor allem den Amerikanern gegenüber. „Ungeheuerlich! Du unterstellst neues Mitläufertum …“– „In der Mehrzahl wart ihr die viel besseren Mitläufer als wir.“
Die lang geratene Ouvertüre gibt das Thema vor: Brüder und Schwestern. Ost-west-diskurs. Belehrt jetzt etwa der Ossi den Wessi? Nein, er gibt nur ein bisschen Nachhilfe in Ossi-kunde. Im Fokus: die Werchows, eine Familie aus Thüringen.
Am Weimarer DNT hat man sich, vielleicht in Ermangelung geeigneter Stücke, der in zwei Bänden erschienenen Familiensaga „Brüder und Schwestern“des Ostberliner Autors Birk Meinhardt angenommen und zu 30 Jahren Mauerfall im E-werk auf die Bühne gebracht. Ein Husarenritt: 1400 Seiten in zweieinhalb Stunden! Die Mauer ist auch wieder da – oder noch in den Köpfen – und wird während der Aufführung vom Weimarer Maler Dieter M. Weidenbach bemalt. Ein stiller ironischer Kommentar mit Stahlwerk, Marx-nischel und Konsumteufel, denn der Willy-sitte-schüler Weidenbach wurde 1985 aus der DDR ausgebürgert und kannte deren bunte Rückseite.
Dort das pralle Leben, hier nur dessen Ecken und Kanten
Schnappschuss: Familie Werchow lächelt selbstbewusst ins Publikum. Wir sind, wer wir sind, und gehen durch dick und dünn. Doch es kommt eher dicke. Vater Willy, vom Drucker zum Direktor einer großen Druckerei aufgestiegen, fügt sich zähneknirschend in die Vorgaben, die er von oben erhält. Die Kompromisse, die er eingeht, entfremden ihn von sich selbst und von seinen Arbeitern. Er betrügt seine Frau und beobachtet mit Sorge, wie die Kinder sich von ihm entfernen: Britta, wegen eines an die Wandzeitung gepinnten Biermann-liedes von der Schule geflogen, findet Unterschlupf in einem Privatzirkus. Sohn Matti schmeißt das Abitur und heuert auf einem Lastkahn an, um ungestört schreiben zu können. Lediglich
Erik, der linientreue ältere Sohn, der Außenhandel studiert und sich aus Karrieregründen von seiner Schwester distanziert hat, sucht die Nähe zum Vater, was dem aber eher unangenehm ist.
So liest man es im Roman, und so erfährt man es auch von der Bühne. Mit einem Unterschied: Während Birk Meinhardt das pralle Leben mit all seinen Ecken und Kanten schildert, filtert die Stückfassung von Christian Tschirner die Ecken und Kanten heraus, und Hasko Weber, der Regisseur, hat Mühe, diesem Konstrukt Leben einzuhauchen. Eingangs stelzt die Inszenierung dozierend dahin, nimmt dann aber Fahrt auf, wirbelt in der Ddrmanege herum und kulminiert nach der Pause in einem kurzen, lakonischen Wendegewitter.
Daran, dass sie die Kurve gerade noch kriegen, haben die Schauspieler großen Anteil. Sebastian Kowski und Isabel Tetzner als lavierender Vater und in sich erstarrte Mutter, Philipp Otto als feiger Erik, Lutz Salzmann als Träumer Matti und Nadja Robiné als lebenshungrige Britta. Sie alle sind im Osten sozialisiert und wissen genau, was sie spielen. Und sie spielen vieles. Nur beweist die Regie dabei nicht immer ein glückliches Händchen.
So wechseln kabarettartige Sketche mit psychologischen Szenen, wird feine Ironie zuweilen in plattem Humor erstickt. Wie die Staatsbürgerkunde-lehrerin den Schüler im Fleischerhemd abbügelt – das ist Studententheater-niveau. Wenn aber Philipp Otto als Betriebsfunktionär mit beiläufigem Schabowskislang die Belegschaftsaussprache abwürgt, spürt man die hohe Kunst der Parodie. Großartig das Zusammenspiel von Isabel Tetzner als Ruth und Nadja Robiné als Nebenbuhlerin Veronika. Ruths Freitod wird subtil erzählt, während die Stasi-nummer in verstörender Verfremdung daherkommt. Von solcher Hintergründigkeit und Irritation hätte man sich in der Inszenierung mehr gewünscht.
Dass aber auch wenig fast alles sein kann, beweist die nur mit Tisch und Stühlen bestückte Bühne (Hasko Weber/alexander Grüner). Andrea Wöllner hat die Arbeiterspinde mit Kleidungsstücken und Accessoires aus Ddr-zeiten gefüllt, sodass die Akteure beim Rollenwechsel nur hineinzugreifen brauchen. Zum Vorschein kommen: eine Dauerwellenperücke, eine Asvtrainingsjacke, eine Ein-strichkein-strich-uniform mit Käppi, Fdj-blusen, Zirkuskostüme, Kittel, Jacketts mit und ohne Parteiabzeichen, eine Art Matrosenhemd …
Apropos Schipper-maschinist: Nahuel Häfliger, der einzige Wessi im Weimarer Brüder-schwester-ensemble, singt Wolf Biermann und mimt gleichermaßen überzeugend den Proletarier wie den Konzernchef. Auch wenn die letzten 700 Romanseiten auf 25 Minuten Sitztheater geschrumpft werden, da ist ja noch Musik. In der schräg aufspielenden Rumpelkapelle (Kompositionen: Sven Helbig) musiziert ein jeder mit, so gut er kann.
Na bitte, wenigstens im Theater klappt doch schon die Einheit.