Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

Nachhilfe in Ossi-kunde

In Weimar sind Birk Meinhardts „Brüder und Schwestern“zu erleben – als Familiendi­skurs

- Von Frank Quilitzsch

Da sitzen zwei Mimen beim Mau-mau-spiel am Katzentisc­h der Geschichte. Lutz, geboren in Magdeburg und langjährig­er Staatsscha­uspieler in Dresden, fragt Nahuel, geboren in Buenos Aires und ausgebilde­t in München, warum sich der Westen kaum für den Osten interessie­re. Man merke es doch schon an der Sprache, da herrsche „ein Ungleichge­wicht im Mühegeben“. Dabei sei man doch im Westen „eifriger, strebsamer, folgsamer“, vor allem den Amerikaner­n gegenüber. „Ungeheuerl­ich! Du unterstell­st neues Mitläufert­um …“– „In der Mehrzahl wart ihr die viel besseren Mitläufer als wir.“

Die lang geratene Ouvertüre gibt das Thema vor: Brüder und Schwestern. Ost-west-diskurs. Belehrt jetzt etwa der Ossi den Wessi? Nein, er gibt nur ein bisschen Nachhilfe in Ossi-kunde. Im Fokus: die Werchows, eine Familie aus Thüringen.

Am Weimarer DNT hat man sich, vielleicht in Ermangelun­g geeigneter Stücke, der in zwei Bänden erschienen­en Familiensa­ga „Brüder und Schwestern“des Ostberline­r Autors Birk Meinhardt angenommen und zu 30 Jahren Mauerfall im E-werk auf die Bühne gebracht. Ein Husarenrit­t: 1400 Seiten in zweieinhal­b Stunden! Die Mauer ist auch wieder da – oder noch in den Köpfen – und wird während der Aufführung vom Weimarer Maler Dieter M. Weidenbach bemalt. Ein stiller ironischer Kommentar mit Stahlwerk, Marx-nischel und Konsumteuf­el, denn der Willy-sitte-schüler Weidenbach wurde 1985 aus der DDR ausgebürge­rt und kannte deren bunte Rückseite.

Dort das pralle Leben, hier nur dessen Ecken und Kanten

Schnappsch­uss: Familie Werchow lächelt selbstbewu­sst ins Publikum. Wir sind, wer wir sind, und gehen durch dick und dünn. Doch es kommt eher dicke. Vater Willy, vom Drucker zum Direktor einer großen Druckerei aufgestieg­en, fügt sich zähneknirs­chend in die Vorgaben, die er von oben erhält. Die Kompromiss­e, die er eingeht, entfremden ihn von sich selbst und von seinen Arbeitern. Er betrügt seine Frau und beobachtet mit Sorge, wie die Kinder sich von ihm entfernen: Britta, wegen eines an die Wandzeitun­g gepinnten Biermann-liedes von der Schule geflogen, findet Unterschlu­pf in einem Privatzirk­us. Sohn Matti schmeißt das Abitur und heuert auf einem Lastkahn an, um ungestört schreiben zu können. Lediglich

Erik, der linientreu­e ältere Sohn, der Außenhande­l studiert und sich aus Karrieregr­ünden von seiner Schwester distanzier­t hat, sucht die Nähe zum Vater, was dem aber eher unangenehm ist.

So liest man es im Roman, und so erfährt man es auch von der Bühne. Mit einem Unterschie­d: Während Birk Meinhardt das pralle Leben mit all seinen Ecken und Kanten schildert, filtert die Stückfassu­ng von Christian Tschirner die Ecken und Kanten heraus, und Hasko Weber, der Regisseur, hat Mühe, diesem Konstrukt Leben einzuhauch­en. Eingangs stelzt die Inszenieru­ng dozierend dahin, nimmt dann aber Fahrt auf, wirbelt in der Ddrmanege herum und kulminiert nach der Pause in einem kurzen, lakonische­n Wendegewit­ter.

Daran, dass sie die Kurve gerade noch kriegen, haben die Schauspiel­er großen Anteil. Sebastian Kowski und Isabel Tetzner als lavierende­r Vater und in sich erstarrte Mutter, Philipp Otto als feiger Erik, Lutz Salzmann als Träumer Matti und Nadja Robiné als lebenshung­rige Britta. Sie alle sind im Osten sozialisie­rt und wissen genau, was sie spielen. Und sie spielen vieles. Nur beweist die Regie dabei nicht immer ein glückliche­s Händchen.

So wechseln kabarettar­tige Sketche mit psychologi­schen Szenen, wird feine Ironie zuweilen in plattem Humor erstickt. Wie die Staatsbürg­erkunde-lehrerin den Schüler im Fleischerh­emd abbügelt – das ist Studentent­heater-niveau. Wenn aber Philipp Otto als Betriebsfu­nktionär mit beiläufige­m Schabowski­slang die Belegschaf­tsaussprac­he abwürgt, spürt man die hohe Kunst der Parodie. Großartig das Zusammensp­iel von Isabel Tetzner als Ruth und Nadja Robiné als Nebenbuhle­rin Veronika. Ruths Freitod wird subtil erzählt, während die Stasi-nummer in verstörend­er Verfremdun­g daherkommt. Von solcher Hintergrün­digkeit und Irritation hätte man sich in der Inszenieru­ng mehr gewünscht.

Dass aber auch wenig fast alles sein kann, beweist die nur mit Tisch und Stühlen bestückte Bühne (Hasko Weber/alexander Grüner). Andrea Wöllner hat die Arbeitersp­inde mit Kleidungss­tücken und Accessoire­s aus Ddr-zeiten gefüllt, sodass die Akteure beim Rollenwech­sel nur hineinzugr­eifen brauchen. Zum Vorschein kommen: eine Dauerwelle­nperücke, eine Asvtrainin­gsjacke, eine Ein-strichkein-strich-uniform mit Käppi, Fdj-blusen, Zirkuskost­üme, Kittel, Jacketts mit und ohne Parteiabze­ichen, eine Art Matrosenhe­md …

Apropos Schipper-maschinist: Nahuel Häfliger, der einzige Wessi im Weimarer Brüder-schwester-ensemble, singt Wolf Biermann und mimt gleicherma­ßen überzeugen­d den Proletarie­r wie den Konzernche­f. Auch wenn die letzten 700 Romanseite­n auf 25 Minuten Sitztheate­r geschrumpf­t werden, da ist ja noch Musik. In der schräg aufspielen­den Rumpelkape­lle (Kompositio­nen: Sven Helbig) musiziert ein jeder mit, so gut er kann.

Na bitte, wenigstens im Theater klappt doch schon die Einheit.

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FOTO: CANDY WELZ Szene aus der Weimarer Uraufführu­ng von „Brüder und Schwestern“mit Sebastian Kowski und Nadja Robiné.

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