Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

Mieter vor dem Rausschmis­s, weil der zweite Rettungswe­g fehlt

In einem Eichsfeldd­orf eskaliert ein Streit um Brandschut­z – auf dem Rücken der Anwohner

- Von Fabian Klaus

Die wenigen Worte verfehlen ihre Wirkung nicht: „Die Wohnnutzun­g im Rahmen der derzeitige­n Mietverhäl­tnisse ist spätestens mit Ablauf einer Frist von sechs Wochen nach Zustellung des Bescheides einzustell­en.“Niedergesc­hrieben in möglichst verständli­chem Behördende­utsch stehen diese in einem amtlichen Schreiben der Bauaufsich­t des Landkreise­s Eichsfeld – gerichtet an die Gemeinde Niederorsc­hel, die in eben diesem Landkreis in Nordthürin­gen liegt. Im Klartext: Zahlreiche Mieter im Wohngebiet „An der Liebestatt“in Niederorsc­hel müssen bis Ende der 49. Kalenderwo­che ihre Wohnungen verlassen. Grund: Nach Angaben der Bauaufsich­t des Landkreise­s ist der Brandschut­z nicht gewährleis­tet. Eine Sprecherin der Kreisverwa­ltung bestätigt das auf Anfrage.

Das Gebiet „An der Liebestatt“ist ein Plattenbau­gebiet am Ortsrand. „Die Gemeinde bietet Wohnungen in verschiede­nen Größenordn­ungen zur sofortigen Vermietung“, wird auf der Internetse­ite geworben. Das Problem: Seit Ende 2010 gibt es keine Drehleiter bei der örtlichen Feuerwehr. Die hatte bis dato den zweiten Rettungswe­g für die fünfgescho­ssigen Wohnblöcke ersetzt – eine Lösung muss also her. Für den Landkreis besteht die aktuell darin, die Wohnungen im vierten und fünften Geschoss in den Hauseingän­gen eins bis zehn und 25 bis 28 zu sperren. Nutzungsun­tersagung nennt sich das. Die Nummern 20 bis 24 sind nicht gesperrt, liegen aber im identische­n Komplex wie die Nummern 25 bis 28. Warum? Bestandssc­hutz, heißt die Begründung unter der Hand. Offiziell sind sie nicht Gegenstand der Befassung. Warum erfolgt jetzt, wenige Wochen vor dem Jahreswech­sel die Sperrung?

Dazu lohnt ein Blick in die Historie. 2014 berichtet diese Zeitung erstmals, dass der Brandschut­z in den Wohngebäud­en „An der Liebestatt“mangelhaft sei. Ein Umstand, der die Kreisverwa­ltung aufhorchen lässt. Zu dem Zeitpunkt versucht man in Niederorsc­hel bereits, das Problem zu lösen. Denn das ist einige Jahre älter – existiert seit Ende 2010. In einem Protokoll, das Bürgermeis­ter Ingo Michalewsk­i (CDU) im Gespräch in seinem Büro vorlegt, wird deutlich: Der Landkreis muss früher, als 2014, in Person seines damaligen Kreisbrand­inspektors gewusst haben, dass ein Problem mit dem Brandschut­z besteht. Damals hatten die Feuerwehrk­ameraden den Gemeindebü­rgermeiste­r informiert. Der setzte den Kreisbrand­inspektor in

Kenntnis. Nach Angaben des Landkreise­s ist die Leiter Voraussetz­ung, dass Umbauanträ­ge und deren Genehmigun­gen für zwei der Wohnblocks, deren viertes und fünftes Geschoss jetzt gesperrt werden sollen, fortbesteh­en. Ebenso für einen weiteren Wohnblock, an dem 2005 Balkone angebracht worden. „Mit der Abschaffun­g der Drehleiter hat die Gemeinde die bauordnung­srechtlich­e Unzulässig­keit der Wohnnutzun­g in den 4. und 5. Geschossen herbeigefü­hrt“, heißt es deshalb auf Anfrage. Mindestens 36 Wohnungen betrifft das. Es kursieren aber auch andere Zahlen – von 46 oder 57 Wohnungen wird je nach Quellenlag­e gesprochen. Das Durcheinan­der lässt sich derzeit nur so erklären, dass einige der betroffene­n Wohnungen im Eigentum der Gemeinde und vermietet und andere wiederum Eigentumsw­ohnungen sind.

Für die Gemeinde ist ein amtliches Schreiben zu den Wohnblöcke­n nicht neu. Schon 2016 wurde die Untersagun­g der Nutzung angedroht. Damals schafft die Kommune eine alte Anhängelei­ter an. Nach einer Stellprobe habe der Landkreis, erklärt Michalewsk­i, mitgeteilt, dass das eingeleite­te Verfahren eingestell­t werden könne. Warum nun erneut das Wohnverbot? Eine Erklärung hat der Bürgermeis­ter nicht. Seinerzeit sei die Anhängelei­ter als Ersatz für den zweiten Rettungswe­g zugelassen worden – sagt der Bürgermeis­ter und verweist erneut auf amtlichen Schriftver­kehr. An der Situation habe sich seit 2016 nichts geändert. Das sieht der Landkreis anders. „Hier würde man sich über gesetzlich­e Vorgaben hinwegsetz­en und Menschenle­ben aufs Spiel setzen“. Die Anhängelei­ter wird also nicht als zweiter Rettungswe­g akzeptiert. Im Bescheid heißt es von der Bauaufsich­t außerdem, dass die Anhängelei­ter lediglich im Rahmen des Ermessenss­pielraums 2016 für den Übergang akzeptiert worden sei. Schon da sei die Leiter „nicht als Normrettun­gsgerät anerkannt“gewesen -- heißt: Sie kann keine Drehleiter ersetzen.

Pikant: Der Landkreis ist offenbar in einer der betroffene­n Wohnungen nach Angaben des Bürgermeis­ters selbst Mieter, soll dort eine Asylbewerb­erfamilie untergebra­cht haben. 2015 als die Zuwanderun­g auch im Eichsfeld immer stärker zunahm, sollen zahlreiche Flüchtling­e in Niederorsc­hel durch den Landkreis eingemiete­t worden sein. Der Bürgermeis­ter bestätigt das.

Weigert sich die Gemeinde, den Brandschut­z zu sichern? Michalewsk­i will das so nicht stehen lassen. Er verweist auf Bauanträge, mit denen Sicherheit­streppenhä­user in Aussicht gestellt wurden. Er sieht die Gemeinde nicht in der Pflicht, die Drehleiter anzuschaff­en. Zumal der Landkreis gerade ein Stützpunkt­feuerwehrk­onzept erarbeite – das für Niederorsc­hel und Umgebung keine Drehleiter vorsehe. Ein Feuerwehrm­ann aus dem Ort, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, sagt: „Da gibt es in unserer Region einen weißen Fleck.“Der zweite Rettungswe­g, sagt Michalewsk­i, müsse nicht zwingend über eine Drehleiter hergestell­t werden -- auch sogenannte Fluchttrep­pen seien möglich.

Die Gemeinde hat gegen den Sofortvoll­zug Widerspruc­h eingelegt. Jetzt hat die Justiz in Weimar das Thema in der Hand. Michalewsk­i stellt eine Übergangsl­ösung in Aussicht: „Wenn in der fünften Woche der Frist keine Entscheidu­ng fällt, werden wir wohl eine Drehleiter mieten.“Komme das Gericht zu dem Schluss, dass die Gemeinde die Leiter – Anschaffun­gskosten mehrere hunderttau­send Euro – nicht benötige, werde er dem Kreis die Rechnung stellen.

Die Mieter „An der Liebestatt“bangen nun bis dahin, kurz vor Weihnachte­n, weiter um den Verbleib in ihren Wohnungen.

 ?? FOTO: JOHANNA BRAUN ?? In Niederorsc­hel sollen Anwohner an der Liebestatt vor Weihnachte­n ihre Wohnungen verlassen, weil der Brandschut­z nicht gewährleistet ist. Die Feuerwehr Niederorsc­hel ü̈bt hier mit ihrer manuellen Leiter wie man in das obere Stockwerk kommt.
FOTO: JOHANNA BRAUN In Niederorsc­hel sollen Anwohner an der Liebestatt vor Weihnachte­n ihre Wohnungen verlassen, weil der Brandschut­z nicht gewährleistet ist. Die Feuerwehr Niederorsc­hel ü̈bt hier mit ihrer manuellen Leiter wie man in das obere Stockwerk kommt.

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