Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)
„Es sollte Korrekturen an Hartz IV geben“
Arbeitsagentur-chef Detlef Scheele über mildere Vorschriften für Arbeitslose und freie Zoo-tickets für Kinder
Detlef Scheele hat sich gerade in einem Jobcenter in Berlinlichtenberg über die Integration von Langzeitarbeitslosen informiert. Bundesweit bekommen aktuell 30.000 Menschen ohne Arbeit eine besonders intensive Betreuung, damit sie im Arbeitsmarkt wieder Fuß fassen. „Ein echtes Erfolgsmodell“, findet Scheele. Aktuell aber muss Scheele sich um andere Baustellen kümmern: Er muss das Hartz-urteil des Bundesverfassungsgerichts umsetzen und ein Finanzloch stopfen, das ihm die große Koalition beschert hat.
Herr Scheele, die große Koalition will den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung noch weiter auf 2,4 Prozent senken. Können Sie mit weniger Geld auskommen?
Ja, das können wir. Wir verlieren durch die Beitragssenkung zwar 1,2 Milliarden Euro. Aber dadurch muss kein Arbeitsloser auf Leistungen oder ein Bildungsangebot verzichten.
Was passiert aber, wenn die Wirtschaft schlechter läuft? Reicht das Geld?
Auch dann reicht es. Aktuell finanzieren wir 54.000 Arbeitnehmern das Kurzarbeitergeld. Das sind zwar in absoluten Zahlen deutlich mehr als 2018, aber insgesamt nur 0,2 Prozent der Beschäftigten. Selbst wenn es zu mehr Kurzarbeit kommt, können wir das finanzieren. Wenn die Prognosen stimmen und sich die Konjunktur im dritten Quartal 2020 wieder erholt, dann kommen wir mit dem Geld gut aus.
„Wir verschicken zurzeit keine Sanktionsbescheide.“Detlef Scheele, Vorstandschef der Bundesagentur für Arbeit
Wie wahrscheinlich ist es, dass die Arbeitslosigkeit demnächst ansteigt?
Wir haben eine Konjunkturdelle. Das verarbeitende Gewerbe, die Autoindustrie und ihre Zulieferer leiden unter den Handelskonflikten. Im nächsten Jahr wird die Arbeitslosigkeit nicht weiter sinken, sie bleibt aber immerhin konstant. Gleichzeitig wird die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Jobs um 250.000 steigen. Es gibt also mehr Beschäftigung. Nur die Demografie begrenzt das Wachstum.
Was heißt das?
Von den arbeitsfähigen Menschen gehen viele in Rente, es kommen zu wenige nach. Es gibt kaum noch Menschen, die sowohl zusätzlich arbeiten können als auch wollen. Der Anteil der berufstätigen Frauen ist mit 70 Prozent in den Metropolen so hoch wie bei den Männern; da geht nicht mehr viel. In der Gruppe der Arbeitnehmer zwischen 60 und 65 Jahren sind 63 Prozent erwerbstätig; das ist Rekord. Es müssten deshalb langfristig unterm Strich 400.000 Menschen pro Jahr nach Deutschland kommen, um die derzeitige Anzahl an Erwerbstätigen zu halten. Doch die Binnenwanderung in der EU stockt. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz für Drittstaaten ist noch nicht in Kraft.
Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass Sanktionen für Hartz-iv-empfänger teilweise gegen das Grundgesetz verstoßen. Wie gehen die Jobcenter jetzt damit um? Wer bekommt noch Sanktionen?
Das Urteil ist in zwei Punkten klar: Bei Regelverstößen gibt es nur noch Sanktionen in Höhe von 30 Prozent – nicht mehr bis zu 100 Prozent wie bislang. Und: Die Jobcenter haben einen größeren Entscheidungsspielraum, sie müssen nicht mehr zwingend Sanktionen aussprechen. Bund, Länder, kommunale Spitzen und wir müssen jetzt noch Details klären – zum Beispiel die Frage, was ein Härtefall ist. Wir verschicken zurzeit keine Sanktionsbescheide. Arbeitslose, die aktuell mit Abzügen von 60 oder
100 Prozent sanktioniert werden, bekommen ihre Sanktion auf 30 Prozent reduziert. Bis Ende November wollen wir eine rechtlich verbindliche Übergangslösung haben. Im nächsten Jahr wird es eine gesetzliche Neuregelung
Wie gehen Sie mit Arbeitslosen unter 25 Jahren um? Auf sie bezieht sich das Urteil ja nicht.
Wir haben den Jobcentern mitgeteilt, dass diese Sanktionspraxis zunächst auch für unter 25-Jährige gilt.
Wie weitreichend soll Hartz IV jetzt reformiert werden? Was sollte sich ändern?
Bei den Sanktionen sehe ich keinen weiteren Veränderungsbedarf. Darüber hinaus könnte es kleinere Korrekturen geben. Wir sollten den Übergang zwischen dem Arbeitslosengeld I und Arbeitslosengeld II abmildern. Es wäre sinnvoll, wenn ein Grundsicherungsempfänger in den ersten zwei Jahren noch nicht sein Vermögen antasten müsste und auch noch in seiner Wohnung bleiben könnte. Eine solche Schonfrist würde für viele die Lage leichter machen. Es wäre auch gut, wenn wir nicht mehr Kleinstbeträge von sieben Euro von den Leistungsempfängern zurückfordern müssten. Das kostet mehr Geld, als wir einnehmen. Und schließlich: Wir sollten bei Menschen, die keine Berufsausbildung haben, eine dreijährige Ausbildung fördern können. Bislang geht das nur bei zweijährigen Ausbildungen.
Sollten Hartz-iv-empfänger mehr Geld bekommen? Muss also der Regelbedarf in der Grundsicherung steigen?
Keine Frage: 424 Euro sind knapp. Aber die Grundsicherung soll ja keine Dauerlösung sein. Wer nach einer Erhöhung der Regelsätze ruft, muss der Kassiererin im Supermarkt erklären, warum sie dann weniger in der Tasche hat als jemand, der gar nicht erwerbstätig ist. Die Regelsätze werden nach verbindlichen Vorgaben ermittelt, das ist bewährte Praxis.
Müssen die Regelsätze für Kinder steigen?
Kinder in der Grundsicherung, das