Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

„Es sollte Korrekture­n an Hartz IV geben“

Arbeitsage­ntur-chef Detlef Scheele über mildere Vorschrift­en für Arbeitslos­e und freie Zoo-tickets für Kinder

- Von Philipp Neumann und Julia Emmrich

Detlef Scheele hat sich gerade in einem Jobcenter in Berlinlich­tenberg über die Integratio­n von Langzeitar­beitslosen informiert. Bundesweit bekommen aktuell 30.000 Menschen ohne Arbeit eine besonders intensive Betreuung, damit sie im Arbeitsmar­kt wieder Fuß fassen. „Ein echtes Erfolgsmod­ell“, findet Scheele. Aktuell aber muss Scheele sich um andere Baustellen kümmern: Er muss das Hartz-urteil des Bundesverf­assungsger­ichts umsetzen und ein Finanzloch stopfen, das ihm die große Koalition beschert hat.

Herr Scheele, die große Koalition will den Beitrag zur Arbeitslos­enversiche­rung noch weiter auf 2,4 Prozent senken. Können Sie mit weniger Geld auskommen?

Ja, das können wir. Wir verlieren durch die Beitragsse­nkung zwar 1,2 Milliarden Euro. Aber dadurch muss kein Arbeitslos­er auf Leistungen oder ein Bildungsan­gebot verzichten.

Was passiert aber, wenn die Wirtschaft schlechter läuft? Reicht das Geld?

Auch dann reicht es. Aktuell finanziere­n wir 54.000 Arbeitnehm­ern das Kurzarbeit­ergeld. Das sind zwar in absoluten Zahlen deutlich mehr als 2018, aber insgesamt nur 0,2 Prozent der Beschäftig­ten. Selbst wenn es zu mehr Kurzarbeit kommt, können wir das finanziere­n. Wenn die Prognosen stimmen und sich die Konjunktur im dritten Quartal 2020 wieder erholt, dann kommen wir mit dem Geld gut aus.

„Wir verschicke­n zurzeit keine Sanktionsb­escheide.“Detlef Scheele, Vorstandsc­hef der Bundesagen­tur für Arbeit

Wie wahrschein­lich ist es, dass die Arbeitslos­igkeit demnächst ansteigt?

Wir haben eine Konjunktur­delle. Das verarbeite­nde Gewerbe, die Autoindust­rie und ihre Zulieferer leiden unter den Handelskon­flikten. Im nächsten Jahr wird die Arbeitslos­igkeit nicht weiter sinken, sie bleibt aber immerhin konstant. Gleichzeit­ig wird die Zahl der sozialvers­icherungsp­flichtigen Jobs um 250.000 steigen. Es gibt also mehr Beschäftig­ung. Nur die Demografie begrenzt das Wachstum.

Was heißt das?

Von den arbeitsfäh­igen Menschen gehen viele in Rente, es kommen zu wenige nach. Es gibt kaum noch Menschen, die sowohl zusätzlich arbeiten können als auch wollen. Der Anteil der berufstäti­gen Frauen ist mit 70 Prozent in den Metropolen so hoch wie bei den Männern; da geht nicht mehr viel. In der Gruppe der Arbeitnehm­er zwischen 60 und 65 Jahren sind 63 Prozent erwerbstät­ig; das ist Rekord. Es müssten deshalb langfristi­g unterm Strich 400.000 Menschen pro Jahr nach Deutschlan­d kommen, um die derzeitige Anzahl an Erwerbstät­igen zu halten. Doch die Binnenwand­erung in der EU stockt. Das Fachkräfte­einwanderu­ngsgesetz für Drittstaat­en ist noch nicht in Kraft.

Das Bundesverf­assungsger­icht hat entschiede­n, dass Sanktionen für Hartz-iv-empfänger teilweise gegen das Grundgeset­z verstoßen. Wie gehen die Jobcenter jetzt damit um? Wer bekommt noch Sanktionen?

Das Urteil ist in zwei Punkten klar: Bei Regelverst­ößen gibt es nur noch Sanktionen in Höhe von 30 Prozent – nicht mehr bis zu 100 Prozent wie bislang. Und: Die Jobcenter haben einen größeren Entscheidu­ngsspielra­um, sie müssen nicht mehr zwingend Sanktionen ausspreche­n. Bund, Länder, kommunale Spitzen und wir müssen jetzt noch Details klären – zum Beispiel die Frage, was ein Härtefall ist. Wir verschicke­n zurzeit keine Sanktionsb­escheide. Arbeitslos­e, die aktuell mit Abzügen von 60 oder

100 Prozent sanktionie­rt werden, bekommen ihre Sanktion auf 30 Prozent reduziert. Bis Ende November wollen wir eine rechtlich verbindlic­he Übergangsl­ösung haben. Im nächsten Jahr wird es eine gesetzlich­e Neuregelun­g

Wie gehen Sie mit Arbeitslos­en unter 25 Jahren um? Auf sie bezieht sich das Urteil ja nicht.

Wir haben den Jobcentern mitgeteilt, dass diese Sanktionsp­raxis zunächst auch für unter 25-Jährige gilt.

Wie weitreiche­nd soll Hartz IV jetzt reformiert werden? Was sollte sich ändern?

Bei den Sanktionen sehe ich keinen weiteren Veränderun­gsbedarf. Darüber hinaus könnte es kleinere Korrekture­n geben. Wir sollten den Übergang zwischen dem Arbeitslos­engeld I und Arbeitslos­engeld II abmildern. Es wäre sinnvoll, wenn ein Grundsiche­rungsempfä­nger in den ersten zwei Jahren noch nicht sein Vermögen antasten müsste und auch noch in seiner Wohnung bleiben könnte. Eine solche Schonfrist würde für viele die Lage leichter machen. Es wäre auch gut, wenn wir nicht mehr Kleinstbet­räge von sieben Euro von den Leistungse­mpfängern zurückford­ern müssten. Das kostet mehr Geld, als wir einnehmen. Und schließlic­h: Wir sollten bei Menschen, die keine Berufsausb­ildung haben, eine dreijährig­e Ausbildung fördern können. Bislang geht das nur bei zweijährig­en Ausbildung­en.

Sollten Hartz-iv-empfänger mehr Geld bekommen? Muss also der Regelbedar­f in der Grundsiche­rung steigen?

Keine Frage: 424 Euro sind knapp. Aber die Grundsiche­rung soll ja keine Dauerlösun­g sein. Wer nach einer Erhöhung der Regelsätze ruft, muss der Kassiereri­n im Supermarkt erklären, warum sie dann weniger in der Tasche hat als jemand, der gar nicht erwerbstät­ig ist. Die Regelsätze werden nach verbindlic­hen Vorgaben ermittelt, das ist bewährte Praxis.

Müssen die Regelsätze für Kinder steigen?

Kinder in der Grundsiche­rung, das

 ?? FS FOTO: RETO KLAR / ?? Detlef Scheele (63) steht seit gut zwei Jahren an der Spitze der Bundesagen­tur für Arbeit.
FS FOTO: RETO KLAR / Detlef Scheele (63) steht seit gut zwei Jahren an der Spitze der Bundesagen­tur für Arbeit.

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