Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)
Diabetes erlaubt keine Pause
Immer mehr Kinder leiden unter Typ 1 der Stoffwechselerkrankung. Für die Eltern ist die Diagnose oft ein Schock
Wenn Kinder an Diabetes Typ 1 erkranken, ist die Diagnose für die Eltern meist ein Schock: Hätte die Krankheit verhindert werden können? Was ändert sich im Leben meines Kindes? Und wird es gesund alt werden? Angesichts solcher Fragen ist eine umfassende psychosoziale Betreuung der betroffenen Familien essenziell, betonen Experten. Doch daran fehlt es häufig – und das, obwohl die Neuerkrankungsrate des Typ-1-diabetes im Kindes- und Jugendalter europaweit kontinuierlich steigt.
In Deutschland kommen jedes Jahr 3000 junge Patienten dazu, insgesamt haben hierzulande 32.000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren Diabetes Typ 1. Einer von ihnen ist der vierjährige Jonas, der eigentlich anders heißt. Bei ihm wurde die Krankheit vor einem Jahr festgestellt. „Nach der Diagnose bin ich zunächst in ein tiefes Loch gefallen“, erinnert sich seine Mutter.
Nun beeinflusse der Diabetes sämtliche Aspekte des Familienlebens. Das ist eine Erfahrung, die alle betroffenen Eltern machen, sagt Susanne Bechtold-dalla Pozza. Die Ärztin an der Kinderklinik der Universität München sagt: „Mit einem Diabetes lebt man 24 Stunden 365 Tage im Jahr.“Die Erkrankung erfordere eine ständige Kontrolle.
Karin Lange, Leiterin der Forschungsund Lehreinheit Medizinische Psychologie an der Mediziniwachen. schen Hochschule Hannover, ergänzt: „Was macht es mit der Elternkind-beziehung, wenn den ganzen Tag auf die Blutwerte geschaut und jeder Keks gesehen wird?“Die Kontrolle der Blutwerte ist lebensnotwendig – und das mehrmals täglich.
Beim Diabetes Typ 1 zerstört das Immunsystem die Insulin produzierenden Zellen in der Bauchspeicheldrüse. In der Folge entstehen saure Stoffwechselprodukte, die sich im Blut anreichern – bei einer schweren Übersäuerung des Körpers spricht man von einer Ketoazidose, aus der sich unbehandelt ein diabetisches Koma entwickeln kann.
Bislang ist Diabetes Typ 1 nicht heilbar. Große Hoffnungen liegen auf Studien zur Früherkennung der Krankheit: Bei ihnen geht es zwar primär darum, die Qualität der Versorgung durch eine frühzeitige Diagnose zu verbessern. „Das große übergeordnete Ziel ist allerdings, die Krankheit zu verhindern“, sagt
Anette-gabriele Ziegler, Direktorin des Instituts für Diabetesforschung am Helmholtz Zentrum München. Hier werden seit 2015 im Rahmen der „Fr1da“-studie Kinder zwischen zwei und fünf sowie zwischen neun und zehn Jahren auf krankheitstypische Antikörper getestet.
Eine Früherkennung könne viel Leid verhindern, sagt Ziegler. Zudem würden Eltern langsam in die Krankheit begleitet, anstatt von der Diagnose wie ein Blitzschlag getroffen zu werden. Die frühe Erkennung soll allerdings auch bei der Entwicklung neuer Therapien helfen. So suchen Forscher in mehreren Bundesländern beispielsweise im Rahmen der „Freder1k“-studie nach Risikogenen bei Neugeborenen. Gleichzeitig gibt es Versuche zu einer Art Diabetes-impfung: Durch die Verabreichung von Insulinpulver soll sich der Körper daran gewöhnen, das Hormon nicht zu bekämpfen.
Doch die Screenings haben auch Kritiker. So betont etwa Bechtolddalla Pozza das Recht der Eltern auf Nichtwissen: „Familien werden mit der Diagnose konfrontiert, deren Kinder noch vollkommen gesund sind und bei denen nicht gesagt werden kann, wann die Krankheit ausbricht. Das nimmt Leichtigkeit.“
Auch Andreas Neu, Oberarzt an der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Tübingen, ist skeptisch: „Wir können so zwar Risiken entdecken, den Eltern aber keine Erfolg versprechenden Therapien anbieten. Das halte ich für problematisch.“Tatsächlich raten die medizinischen Fachgesellschaften in ihrer aktuellen Leitlinie von einem Screening ab. Viel wichtiger, so Neu, sei ein breites Wissen in der Bevölkerung über die Anzeichen eines Diabetes: „Dazu gehört etwa, dass ein Kind beginnt, mehr zu trinken, häufiger auf die Toilette geht und Gewicht verliert.“
Bis die Krankheit gestoppt werden kann, bleibt als einzige Therapie die regelmäßige Zuführung von Insulin, per Spritze, Pen oder Pumpe – ein Vorgang, der für betroffene Kinder und ihre Eltern mit Stress verbunden ist. Jonas’ Mutter berichtet, dass ihr Sohn anfangs nichts mehr essen wollte, weil er Angst vor den Spritzen hatte. Seit der Diagnose habe sie keine Nacht mehr durchgeschlafen, Jonas schlafe bei ihr.
Damit ist sie nicht allein, führt Karin Lange aus: „Es sind gerade die Mütter, die nachts über ihre Kinder Die daraus resultierenden Schlafstörungen kommen zu der ohnehin starken psychologischen Belastung hinzu.“Laut Lange muss es darum gehen, zu gewährleisten, dass Kinder trotz der Diagnose gut aufwachsen, die Eltern gesund und deren Partnerschaften stabil bleiben: „Dafür brauchen die Eltern eine kompetente und kontinuierliche Unterstützung.“
Neben den Eltern sind es die jungen Patienten selbst, die früher oder später psychosoziale Hilfe benötigen könnten, weiß Oberarzt Neu: „Für die Eltern bedeutet die Diagnose unmittelbar eine tiefe Erschütterung, während diese bei den Kindern oft erst in der Pubertät eintritt.“
In der Pubertät kann die Krankheit eine Überforderung bedeuten
In dieser Phase würde man deswegen häufig von einer zweiten Manifestation der Krankheit sprechen. „Unsere heutige komplexe Gesellschaft stellt ohnehin schon zahlreiche Herausforderungen an die Heranwachsenden“, beschreibt Neu. Eine zusätzlich chronische Erkrankung könne eine Überforderung bedeuten. „Und diese kann zu schweren psychischen Folgen von Depressionen bis hin zu Angststörungen führen.“Wer aber depressiv sei oder mit einer Belastungsstörung zu kämpfen habe, der sei leicht mit der Kontrolle der Blutzuckerwerte überfordert: „Und dann wird es gefährlich, denn Diabetes erlaubt keine Pause.“