Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)
Missbrauchs-skandal weitet sich aus
Kinderporno-netzwerk hatte 1800 Mitglieder. Eine Justizpanne erschwert die Ermittlungen in NRW: Ein Verdächtiger blieb monatelang frei
Wieder passierte es in Nordrhein-westfalen. Wieder besteht der ungeheure Verdacht, dass dort ein immenses Täternetzwerk am Werk war. Noch kann niemand die Ausmaße des aktuellen Missbrauchsskandals abschätzen. Doch es wird immer deutlicher, dass dieser Fall wohl noch deutlich größere Dimensionen annimmt als die vor Monaten bekannt gewordene Causa Lügde – und dass erneut Justizpannen die Ermittlungen erschweren. 1800 Personen konnten die von der Polizei sichergestellten Videos ansehen, denn die Täter stellten ihr Material Gleichgesinnten in einschlägigen Chatgruppen zur Verfügung. Alle Teilnehmer des Chats werden jetzt überprüft.
Am Mittwoch nimmt Nrw-innenminister Herbert Reul im Düsseldorfer Landtag Stellung. Der 67jährige Cdu-politiker berichtet mit belegter Stimme von dem Kinderporno-ring, den Ermittler gerade ausheben: 18 Männer hätten Bilder und Filme von schwersten Missbrauchstaten getauscht oder sich zu Übergriffen auf ihre eigenen Kinder verabredet. „Allein die Vorstellung haut einem die Füße weg“, sagt Reul. Er spricht von einem „riesigen Netzwerk mit Tätern in ganz Deutschland“.
Die Ermittlungen haben inzwischen Sondereinheiten der Staatsanwaltschaft und Polizei in Köln übernommen. Rund 250 Beamte einer Besonderen Aufbauorganisation (BAO) müssen 2400 Datenträger mit 30 Terabyte Material sichten und auswerten. Wegen der großen Datenmengen gehen Polizei und Staatsanwaltschaft von langwierigen Ermittlungen aus. Die 18 bisherigen Verdächtigen kommunizierten über ein Chatprogramm, neun Männer sitzen in Untersuchungshaft.
Der Verdächtige wollte Spuren verwischen
Die Aufklärung wird von einer schweren Justizpanne überschattet, die Justizminister Peter Biesenbach (CDU) im Landtag einräumt: Bereits Anfang Juni bekam die Polizei den Fall eines 26-jährigen Familienvaters auf den Tisch, der seinen fünfjährigen Stiefsohn und die dreijährige Tochter sexuell missbraucht haben soll – die Ehefrau hatte ihn angezeigt. Offenbar gehörte der Mann, ein Zeitsoldat der Bundeswehr aus Wesel, zu dem nun enttarnten Kinderschänder-netzwerk. Doch erst Ende Oktober wurde er festgenommen. Und das, obwohl der Beschuldigte noch am Abend der Anzeige auf der Wache erschien, ein Geständnis ablegte und sich „reumütig und therapiebereit“gab, wie Biesenbach zusammenfasst. Er habe die Kinder in der Vergangenheit fünfmal im Genitalbereich berührt und früher schon einmal Kinderpornografie konsumiert, gab der Mann an. Es schien eine Art „Lebensbeichte“zu sein. Doch da die Kinder mittlerweile in Sicherheit waren, erkannten die Behörden
keine Wiederholungsgefahr. Der Mann durfte wieder gehen, die zuständige Staatsanwaltschaft Kleve beantragte keinen Haftbefehl.
Inzwischen gehen die Verantwortlichen davon aus, dass der Soldat mit seiner „Beichte“nur Spuren zu viel schwerwiegenderen Missbrauchstaten verwischen wollte. Hinweise auf den Kinderschänderring erhielt die Polizei dann erst Ende Oktober, als sie bei einem 42Jährigen in Bergisch Gladbach zehn Terabyte Daten sicherstellte. Er soll sein zwei Jahre altes Kind missbraucht und die Taten gefilmt haben. Hätte das Netzwerk schon Monate vorher entdeckt werden können, wenn die Behörden wachsamer gewesen wären?
Der Generalstaatsanwalt habe bei der Überprüfung des Vorgehens der Staatsanwaltschaft „handwerkliche Fehler festgestellt, die ich sehr bedauere“, sagt Biesenbach. Innenminister Reul betont, dass die Polizei-arbeit in Wesel „nicht meinem hohen Qualitätsanspruch“gerecht geworden sei.
Die Ermittler stehen derweil unter großem Ergebnisdruck: Sie befürchten, dass bisher unbekannte Täter weiter aktiv sein könnten.