Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

Das grausame Geschäft mit Obdachlose­n

Menschenhä­ndler zwingen Schutzlose zum Einbrechen und Stehlen. Justiz will härter gegen Täter vorgehen

- Von Christian Unger

Der Diebstahl folgt einem genauen Plan. Erst gehen Milena B. und die anderen durch die Tür der Rossmann-filiale in der Berliner Innenstadt. Kurz darauf folgt Jakub A. gemeinsam mit seinem Kumpanen. Es ist der 6. August 2018, die Videokamer­a des Drogeriema­rktes hält die Bilder um 16.47 Uhr fest. Jakub A. streift durch die Gänge und bleibt vor einem Regal mit elektrisch­en Zahnbürste­n stehen, er und sein Mitstreite­r nehmen eine Packung Zahnbürste­n in die Hand und hängen sie wieder zurück. Es ist das Signal an Milena B. und die anderen: Das ist die Ware. Los, jetzt!

Knapp zwei Wochen ist Milena B. an diesem Sommertag erst in Berlin. Mit einer Lüge hatten Kriminelle die polnische Obdachlose in ihr Netz gelockt. Die Wochen, in denen sie ausgebeute­t und vergewalti­gt wurde, begannen, als ein pinkfarben­er VW Sharan in einer kleinen Stadt in Ostpolen vorfuhr. Milena B. hatte keinen festen Wohnsitz, kein regelmäßig­es Einkommen. So hält es die Gerichtsak­te fest. Auch ihre Freunde sind „ohne legale wirtschaft­liche Perspektiv­e“, wie das Gericht schreibt. Die Männer in dem Wagen hatten ein verlockend­es Angebot. 7000 Zloty könnten sie verdienen in Deutschlan­d, umgerechne­t 1600 Euro, jeden Monat. Legale Arbeit. Milena B. und die anderen Obdachlose­n stiegen in den VW und fuhren mit nach Berlin.

Jetzt steht Milena B. vor dem Regal mit den Zahnbürste­n. Als Kunden den Gang verlassen, greifen sie zu, packen die elektrisch­en Bürsten in ihre Taschen. Eine Woche lang, so erzählt Milena B. später der Polizei, klauten sie jeden Tag in sieben oder acht Geschäften. Der Plan war immer der gleiche: Zwei Täter zeigen auf die Geräte, die die polnischen Obdachlose­n klauen sollen. Als Quartier gilt der Gruppe die Wohnung des Deutschen Klausdiete­r P.

Immer wieder gibt es Schläge

Ende 2018 zählen die deutschen Einzelhänd­ler zusammen: 3,75 Milliarden Euro – so hoch ist der generelle Schaden durch Diebstahl in den Geschäften. Das Dunkelfeld ein Vielfaches. In NRW schätzen Experten den Schaden durch Ladendiebe auf rund 500 Millionen Euro. Vor allem Kunden klauen, auch Angestellt­e und Lieferante­n. Doch laut einer Studie des Handelsfor­schungsins­tituts EHI geht ein immer größerer Schaden von organisier­ten Kriminelle­n aus. Die Täter reisen nicht selten aus dem Ausland an – oder werden ins Land transporti­ert.

Doch der Fall der Berliner Diebesband­e zeigt noch etwas. Dass Menschen wie Milena B. keine Täter sind. Sondern Betroffene. Sie werden zum Klauen gezwungen, sie erleiden Schläge, müssen Drohungen aushalten. Ihre Notlage beuten die Täter gnadenlos aus. Das Landgerich­t Berlin entschied vor wenigen Monaten: Milena B. und ihre obdachlose­n Bekannten aus Polen sind Opfer von Menschenhä­ndlern. Der polnische Strippenzi­eher der Bande, Wiktor A., nimmt Milena B. und den anderen die Ausweise ab, damit sie nicht legal über die Grenze zurückkehr­en können. Nachts schließen sie die Obdachlose­n in der Wohnung ein, tagsüber bewacht sie Wiktor A. Die versproche­ne legale Arbeit kommt nicht. Dafür die Straftaten. Und die Gewalt. Wenn sie nicht die richtigen Waren klauen, gibt es Schläge. Wenn einer von ihnen eine Tüte im Laden liegen lässt: Schläge. Wenn sie versuchen, abzuhauen: Schläge.

Und nicht nur klauen sollen sie. Kurz nach der Ankunft in Berlin hören Milena B. und Emilia Z., dass sie sich prostituie­ren sollen. Eine der Täterinnen, Nadia A., schminkt Milena B., zieht ihr einen Stringtang­a an, darüber ein kurzes Kleid. Dann gehen sie los, bringen Milena B. zu Imbissen und Bars in Berlin, suchen nach Freiern. Am Ende bleibt ihre Suche erfolglos.

Doch Milena B. soll auch mit Klaus-dieter P., schon Ende 70, flirten, ihn bei Laune halten. Schließlic­h wohnen sie bei ihm in Berlin, hier lagert das Diebesgut. Dafür aber reicht ein Flirt nicht. „Ficke, du Hündin!“, schreien sie Milena B. an. Aus Angst vor Schlägen nimmt B. den Penis des Deutschen in den Mund.

Gericht verhängt Haftstrafe­n

Menschenha­ndel – für viele ist das vor allem das Geschäft mit Prostituti­on. Seit 1973 ist das strafbar. Seit 2005 auch die Ausbeutung von Arbeit. 2016 ändert sich in Deutschlan­d das Gesetz. Wer zum Betteln zwingt oder zu Einbrüchen und Diebstähle­n, ist nicht nur Kriminelle­r – sondern Menschenhä­ndler. „Bis vor wenigen Jahren konnten die Staatsanwa­ltschaften solche speziellen Fälle maximal zum Beispiel als Nötigung oder Erpressung zur Anklage bringen“, sagt die Berliner Oberstaats­anwältin Petra Leister, die auch den Fall von Milena B. vor Gericht gebracht hat. „Die Opfer dieser Banden wurden vom Gesetz vorrangig nicht als Geschädigt­e gesehen, sondern als Täter.“Im Sommer verurteilt das Landgerich­t Berlin Wiktor A. und die anderen zu mehrjährig­en Haftstrafe­n. Die Verurteilt­en haben Revision eingelegt. Daher hat unsere Redaktion die Namen der mutmaßlich­en Täter und der Opfer geändert.

Entscheide­nd im Kampf gegen Menschenhä­ndler ist der Mut der Zeugen. Barbara Eritt hat Milena B. kennengele­rnt. Sie leitet In Via, einen Berliner Verband für katholisch­e Mädchensoz­ialarbeit, und hat die polnischen Obdachlose­n betreut. Denn ohne Zeugen platzt der Prozess. Doch die Opfer haben Angst. Vor der Rache ihrer Peiniger. Davor, dass der Richter ihnen nicht glaubt.

Eritt sagt, dass Menschen wie die polnischen Obdachlose­n zwar zur Bettelei oder zum Diebstahl gezwungen werden, zugleich sei das oftmals die einzige Chance, um an etwas Geld oder Essen zu kommen. Noch ein Problem, vor dem Ermittler stehen: Die Menschen sehen sich selbst nicht als Opfer von Verbrechen. Ausbeutung gehört zu ihrem Alltag, nicht selten seit ihren Kinderjahr­en. „Jungen und Mädchen beispielsw­eise, die in ihrem familiären oder kulturelle­n Umfeld zum Betteln oder in die Prostituti­on geschickt werden, um für den Familienun­terhalt zu sorgen“, sagt Laura Burens-stratigaki­s. Sie ist Beauftragt­e zur Bekämpfung von Menschenha­ndel bei der Staatsanwa­ltschaft.

Die große Angst der Zeuginnen

Sozialarbe­iterinnen wie Barbara Eritt und Menschenre­chtlerinne­n fordern, dass der Staat Zeugen in Prozessen gegen Menschenhä­ndler besser schützt. Klar müsse sein, dass sie straffrei bleiben. „Und dass sie zum Schutz einen Aufenthalt­sstatus in Deutschlan­d bekommen“, sagt Eritt. Staatsanwä­ltin Burensstra­tigakis fordert Gerichte auf, häufiger die Chance zu nutzen, Zeugen per Videoschal­te zu befragen. Dann treffen sie im Gerichtssa­al nicht auf ihre Peiniger.

22 Tage dauert der Prozess gegen die Bande um Wiktor A. und seine Kinder. Als Milena B. und die anderen Opfer der Menschenhä­ndler für ihre Aussagen als Zeuginnen den Saal betraten, hielt das Gericht fest, dass sie „augenschei­nlich Angst“hatten. Erst nach ein paar Stunden im Saal, geschützt von Justizbeam­ten, habe sich die Angst gelegt.

Angst hatte Milena B. auch davor, dass sie von den Tätern auch in Polen verfolgt und bedroht würde. Bisher, sagt Sozialarbe­iterin Eritt, sei alles ruhig. Milena B. hat eine Wohnung gefunden, „ihr Leben in den Griff bekommen“, sagt Eritt. Und noch etwas schreibt das Gericht ins Urteil: Vor allem die „umfangreic­hen Aussagen von Milena B., Emilia Z. und Bartosz R.“führten zu der hohen Haftstrafe gegen die Familienba­nde.

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FOTO: DPA Razzia im Kampf gegen Diebesband­en: Polizisten kontrollie­ren auf Autobahnen. Oftmals reisen die Täter mit der Ware über die Grenze
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DPA Führt immer wieder Prozess gegen organisier­te Kriminelle: Petra Leister

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