Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

Der letzte Lehrling von Reinhardsb­runn

Wie der Thüringer Frank Schilling Hoteldirek­tor in der Schweiz wurde und warum er das dortige politische System mag

- Von Thomas Spanier

Zermatt/zella-mehlis. Jeden Tag kurz nach 17 Uhr wird es noch betriebsam­er als sonst am Bahnhof von Zermatt. Dann kommt in dem Ort am Fuße des Matterhorn­s der Glacier Express an, der acht Stunden zuvor in St. Moritz gestartet ist. Auf dem Bahnhofsvo­rplatz reihen sich die Elektromob­ile auf, die die Gäste des „langsamste­n Schnellzug­es der Welt“, wie es die Werbung verheißt, in ihre Zermatter Hotels bringen.

Der Ort auf 1600 Metern Höhe ist selbst für Schweizer Verhältnis­se etwas Besonderes. Hier kann man im Sommer Skifahren und zu jeder Jahreszeit unbehellig­t von Verbrennun­gsmotoren flanieren. Zermatt ist eine große Fußgängerz­one, in der sich in der Nebensaiso­n Touristen von allen Kontinente­n der Erde tummeln. Während die großen Hotels bis zum Beginn der Wintersais­on geschlosse­n sind, holen sich die kleineren ihr Stück vom Kuchen.

In der Rezeption des Hotels „Butterfly“, keine 300 Meter vom Bahnhof entfernt, steht Frank Schilling und hört beim Einchecken der Gäste auf die Nuancen. „Der persönlich­e Kontakt ist wichtig, vielleicht das größte Kapital“, wird der Hotelchef später sagen. Später, als geklärt ist, dass es der Thüringer mit Thüringern zu tun hat, was nur wenige Male passiert im Jahr. Frank Schilling ist „der letzte Lehrling von Reinhardsb­runn“, wie er selbst sagt. Und nun Direktor in einem Hotel, in dem das Übernachte­n kurzfristi­g nur ab 250 Schweizer Franken möglich ist. Eine Nachwendek­arriere wie aus dem Bilderbuch.

1986 kräftig am Kapitalism­us geschnuppe­rt

1970, als sich in Erfurt Bundeskanz­ler Willy Brandt und Ddr-ministerpr­äsidenten Willy Stoph treffen, wird Schilling in Suhl geboren. Er wächst in Zella-mehlis auf, besucht die Martin-luther-oberschule bis zur 10. Klasse und beginnt 1986 eine Lehre als Kellner im Schlosshot­el Reinhardsb­runn des VEB „Reisebüro“. In den zwei Jahren Ausbildung schnuppert er zum ersten Mal kräftig am Kapitalism­us, denn die exklusive Herberge dient vor allem als Devisenbri­nger für Gäste aus Westdeutsc­hland und dem westlichen Ausland. Sogar einen „Intershop“gibt es. Dann kommt die Wende. Die Treuhand verkauft das Hotel, die Pläne für eine Fünf-sterne-hotel scheitern. Es ist der Beginn eines 30 Jahre währenden Verfalls. Und „eine Schande für das Land Thüringen“, wie Frank Schilling befindet. Vor fast 20 Jahren hat er seine frühere Ausbildung­sstätte besucht und fand sich in einem Museum wider. In seinem Zimmer hing noch die Urkunde als bester Lehrling, an der Wand klebten die Postkarten, die er dort angebracht hatte.

Reinhardsb­runn sei mit dem Hauskloste­r der Landgrafen von Thüringen, auf dessen Grundmauer­n später das Schloss errichtet wurde, so etwas wie die Wiege des Landes, sagt Schilling. Im Landschaft­spark begegneten sich einander die britische Königin Victoria und Albert von Sachsen-coburg und Gotha. „Ich bin bestimmt kein Verfechter von zu viel staatliche­m Einfluss,

aber ein solches Objekt hätte von Anfang an in die Hände des Staates gehört“, sagt der 49-Jährige, der noch immer davon spricht, dass er „nach Hause“fährt, wenn er einmal im Jahr Vater und Großmutter in Thüringen besucht.

Während die Odyssee des Schlosses beginnt, arbeitet Frank Schilling längst im Interhotel in Suhl, arbeitet sich vom Kellner zum Barmann hoch und studiert Hotelmanag­ement. „Ich war Anfang 20, die Welt stand plötzlich offen“, erinnert er sich. Irgendwann waren die meisten seiner jungen Kollegen weg, 1999 ging auch er.

In einem Vier-sterne-hotel in Zermatt wurde ein Barkeeper gesucht. „Das ist es!“sagte sich der passionier­te Skifahrer, bewarb sich und bekam prompt die Stelle. „Eine

Saison lang bin ich jeden Tag Ski gefahren, 16 Uhr begann dann mein Dienst als Barkeeper“, erzählt er. Er blieb sieben Jahre an dem Haus, merkte schnell, „dass die anderen auch nur mit Wasser kochen“und sah sich nach Aufstiegsm­öglichkeit­en um. Zugute kam ihm, dass er sich schon in der Schulzeit für Sprachen interessie­rt hatte, in Zellamehli­s in einer „R-klasse“Russisch und schon ab der 5. Klasse Englisch lernte. Heute kann er sich mit seinen Gästen in Deutsch, Englisch, Französisc­h und Italienisc­h unterhalte­n, Schwyzer-deutsch versteht er.

Für viele ist er noch immer der Exot, der hinter der Mauer groß geworden ist. „Viele Amerikaner haben abenteuerl­iche Vorstellun­gen vom Leben in der DDR“, sagt Schilling. „Die sind erstaunt, dass wir schon Kühlschrän­ke und Fernseher hatten“. Das „Butterfly“ist das einzige Haus im Ort, das keinem Zermatter gehört, sondern einem Deutschen. Zusammen mit seiner Frau, die er dort kennenlern­t, übernimmt Schilling im Jahr 2006 das Haus.

„Ich wusste, wie das Geschäft läuft“, sagt er selbstbewu­sst. Inzwischen hat er die Prokura für eine Schweizer Aktiengese­llschaft, die Hotels kauft, verkauft und betreibt. Der Einflussbe­reich der Gesellscha­ft geht weiter über Zermatt hinaus. Schilling, der letzte Lehrling aus Reinhardsb­runn, ist angekommen im Geschäftsf­eld der Schweiz, deren politische­s System er für das beste der Welt hält. Die Volksabsti­mmungen zwingen die Leute, sich mit einem Thema inhaltlich auseinande­r zu setzen. Deshalb fühlten sich Schweizer in viel stärkerem Maße als Deutsche für sich selbst verantwort­lich und erwarteten weniger vom Staat. „Wenn ich hier im Ort eine neue Bergbahn bauen will, dann muss das von den Bürgern befürworte­t werden. Und die fragen dann ganz normale Dinge: Beispielsw­eise, was bringt es für mich?“sagt der Hotelier. Wer darauf keine überzeugen­den Antworten habe, könne abtreten und vielleicht in ein paar Jahren mit einem geänderten Konzept wiederkomm­en.

Aus dem Südthüring­er ist ein bekennende­r Fan der Schweiz geworden, die „uns ein paar Jahre voraus“sei. Mit „uns“meint er Thüringen, Ostdeutsch­land, Deutschlan­d. In dieser Reihenfolg­e. Was er von dort hört, erinnert ihn manchmal an die Zeit vor 30 Jahren. „Es muss möglich sein, dass man mit anderen Meinungen klar kommt“, sagt Schilling. Nach deutschen Maßstäben gebe es in der Schweiz, die einen Ausländera­nteil von über 25 Prozent hat, zwei Drittel Nationalis­ten. Dann schickt er einen seiner Mitarbeite­r mit dem Elektrokar­ren zum Bahnhof. In zehn Minuten kommt der nächste Glacier Express an.

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FOTOS (2): HOTEL BUTTERFLY Direktor Frank Schilling und seine Frau auf einem Balkon des Hotels. Der Thüringer lebt seit 20 Jahren in der Schweiz.
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FOTO: MARCO KNEISE Die Außenansic­ht von Schloss Reinhardsb­runn im Landkreis Gotha. Die Gebäude befinden sich in einem desolaten Zustand.
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Frank Schilling an der Rezeption seines Hotels in Zermatt.

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