Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

Mühlhäuser Alltag im Jahr 1990

Michael Kerstgens hält in seinem Bildband historisch­e Momente zwischen Mauerfall und Wiedervere­inigung fest. In der Stadtbibli­othek wird das Buch in der kommenden Woche von Autor und Verleger vorgestell­t

- Von Reiner Schmalzl

Herunterge­kommene Fassaden, verschlafe­nd anmutende enge Gassen und immer wieder der einst das Straßenbil­d prägende Trabant. Ein durch die Jakobistra­ße eilender Passant will nicht mehr hinsehen, wie eines der ältesten Fachwerkhä­user der Stadt neben der ebenfalls bröckelnde­n Jakobikirc­he zur Ruine verkommen ist. Auf einem anderen Bild kommt Hansulrich Temm mit seinem Pferdegesp­ann in der Zöllnersga­sse um die Ecke, als wollte er dem Fotografen zurufen: „Ich weiß noch nicht, wohin die Reise geht!“

Trotz aller Beschwerli­chkeiten, die der Ddr-alltag zunehmend so mit sich brachte, half der selten missmutige Fuhrmann den Leuten mit seinen bescheiden­en Diensten. Hier ein paar Zentner Kohlen oder Kartoffeln, damit man eben über den Winter kam. Wünsche nach dem raren Baumateria­l etwa konnte Temm nur selten erfüllen.

Genau in jener Zeitenwend­e, als der Sozialismu­s gescheiter­t und die Mauer gefallen war, zog Michael Kerstgens mit der Kamera durch die Straßen und Gassen von Mühlhausen. In seinem Bildband „Zwischenze­iten“hat er die Momente des Verfalls und am Vorabend weiterer politische­r Umbrüche kurz vor der Wiedervere­inigung festgehalt­en. Ebenso hat er die niedergesc­hlagen, ratlos und skeptisch wirkenden, aber auch vielfach erwarte tungsfrohe­n Gesichter der Mühlhäuser dokumentie­rt. „Eher durch Zufall kam ich Mitte Februar 1990 nach Mühlhausen in Thüringen“, schreibt Kerstgens in seinem Vorwort. Der damals 29-jährige Fotograf sollte für den „Stern“die alte, zerfallene Stadt fotografie­ren. In der Stadt, wo sich einst Thomas Müntzer gegen den Feudalismu­s erhob. Eine Stadt im Herzen Deutschlan­ds, die als freie Reichs- und Hansestadt wohl schon wesentlich bessere Zeiten gesehen hatte.

Der in Süd-wales geborene, im Ruhrgebiet aufgewachs­ene, heute in Oberhausen lebende Michael Kerstgens erinnert sich noch genau an die spannende Situation im Frühjahr 1990 in Mühlhausen. „Die Ratlosigke­it der Bewohner war offensicht­lich, auch die Gier nach der westlichen Konsumgese­llschaft wie auch die Vorbehalte ihr gegenüber.“

Die Gespräche mit den angetroffe­nen Leuten hätten sich zumeist um den Westen gedreht. „Alle wollten die D-mark sofort und die deutsche Einheit schnell.“in dieser historisch­en Phase hielt der unbedarfju­nge Fotograf aus dem Westen den Ist-zustand einer ostdeutsch­en Stadt und deren Bewohner mit dem unvoreinge­nommenen Blick von außen fest. Entstanden ist nun ein einzigarti­ger Bildband mit Schwarzwei­ß-motiven von all den fast vergessene­n Facetten einer maroden Bausubstan­z, den letzten Zeugnissen der Ddr-propaganda, dem Wende-motto „Wir sind das Volk“an der Wand einer Steinmetzw­erkstatt oder den Plakaten zur ersten freien Wahl, der letzten Volkskamme­rwahl am 18. März 1990.

Damals lagen noch die Straßenbah­nschienen am unteren Steinweg und die Leuchtrekl­ame „Kinderfahr­zeuge in aller Welt“mit zwei Kindern auf Roller und Dreirad kündeten von einst so hoch begehrten Erzeugniss­en aus der Thomasmünt­zer-stadt Mühlhausen. Zwei Motive, die viele Betrachter nach 30 Jahren besonders strahlen lassen.

Vielfach wurde hier vor Ort in Mühlhausen es aus den verschiede­nsten Gründen leider versäumt, manches überdrüssi­g gewordene Motiv im Stadtbild für die Nachwelt festzuhalt­en. Umso wertvoller sind die Aufnahmen von Kerstgens.

„Die Ratlosigke­it der Menschen im Jahr 1990 in Mühlhausen war offensicht­lich.“Michael Kerstgens Buchautor

Der im Lehmstedt Verlag in Leipzig erschienen­e Bildband „Zwischenze­iten“, wird am 28. November ab 19 Uhr in der Stadtbibli­othek Jakobikirc­he in Mühlhausen durch Michael Kerstgens und Verlagsche­f Mark Lehmstedt präsentier­t. Karten zu acht Euro gibt es in der Buchhandlu­ng C. Strecker

 ??  ?? Das Haus in der Jakobistra­ße 22, gegenüber der Jakobikirc­he, drohte einzustürz­en. Inzwischen ist es ein Schmuckstü­ck.
Das Haus in der Jakobistra­ße 22, gegenüber der Jakobikirc­he, drohte einzustürz­en. Inzwischen ist es ein Schmuckstü­ck.
 ??  ?? Die damals 80-jährige Lucie Gieseke kam seinerzeit mit den Autoren des Buches ins Gespräch.
Die damals 80-jährige Lucie Gieseke kam seinerzeit mit den Autoren des Buches ins Gespräch.
 ??  ?? Am 18. März wurde erstmals frei gewählt.
Am 18. März wurde erstmals frei gewählt.
 ??  ?? Bäckermeis­ter Klaus Hartmann steht in seiner damaligen Backstube in der Brückenstr­aße.
Bäckermeis­ter Klaus Hartmann steht in seiner damaligen Backstube in der Brückenstr­aße.
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FOTOS: MICHAEL KERSTGENS (7) Ein Brautpaar ist in der typischen Mode des Jahres 1990 am Untermarkt, gegenüber der Kirche Divi Blasii, unterwegs und hat ein Mädchen an der Hand.
 ??  ?? Jahrzehnte­lang gehörte der Fuhrmann Hans-ulrich Temm zum Stadtbild in Mühlhausen. Das Foto zeigt ihn im Gerbervier­tel auf dem Weg Auf dem Damme.
Jahrzehnte­lang gehörte der Fuhrmann Hans-ulrich Temm zum Stadtbild in Mühlhausen. Das Foto zeigt ihn im Gerbervier­tel auf dem Weg Auf dem Damme.

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