Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)
Stress auf allen Ebenen
Arbeitnehmer mit Kindern haben Anspruch auf eine Kur. Nur elf Prozent der Anträge werden abgelehnt
Der Strand ist nur ein paar Schritte entfernt, die Luft duftet nach Meer, Wald und Wiesen, Möwen kreischen. Eine Gruppe Frauen spaziert mit Nordic-walking-stöcken über den Deich, vorneweg die dynamische Trainerin. Drei Wochen lang sind sie gemeinsam mit ihren Kindern in der Ostseeklinik Zingst – eine Auszeit vom Alltag, die allerdings nicht mit Urlaub zu verwechseln ist. Denn das Stöcke-training ist nur ein Bestandteil eines großen Katalogs von sportlichen und physiologischen Maßnahmen, die die Mütter und auch die vereinzelten Väter durchlaufen. Auch die Seele bekommt viel Aufmerksamkeit.
„Unsere Patientinnen haben zu Hause Stress in allen Bereichen“, sagt Oberärztin Astrid Novosel-datzer von der Ostseeklinik Zingst. „Das Kernproblem ist vor allem die Mehrfachbelastung und die extreme Erschöpfung arbeitender Mütter und Väter. Aber der konkrete Anlass, eine Kur zu beantragen, ist meist der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Dabei wäre es besser, schon früher zu kommen und die Kur als Vorsorge und nicht als Notfallplan zu verstehen.“
„Der Schwerpunkt liegt darauf, Müttern und Vätern aus dem Hamsterrad der
Verantwortlichkeiten herauszuhelfen“, sagt Novosel-datzer: „Ein ganz wichtiges Thema ist bei uns die Selbstkompetenz und das Bewusstwerden. Gerade Frauen häufen sich viel zu viele Aufgaben auf und sind ständig am Rotieren. Während der Kur soll also nicht nur entspannt, sondern auch an sich gearbeitet werden, damit die erzielten Erfolge langfristig wirken können. „Natürlich kann man nicht in drei Wochen sein Leben ändern und alles ist wieder gut“, sagt die Ärztin: „Aber wir versuchen, kleine Routinen mitzugeben, die man täglich praktiziert.“
Problem der ständigen Verfügbarkeit Gerade die hohe Belastung von Müttern habe nicht nur mit dem realen Stress, sondern auch mit gesellschaftlichen und individuellen Rollenbildern zu tun, sagt Anne Schilling: „Die Frauen haben oft mit einem schon längst überkommenen traditionellen Rollenbild zu kämpfen, das mit der Geburt der Kinder plötzlich wieder auftaucht. So wird von ihnen häufig die totale Irgendwann wird alles zu viel Verfügbarkeit für das Kind verlangt. Gleichzeitig wird im hohen Maße Multitasking erwartet, der Alltag wird also zu einem ständigen Spagat“. Erstaunlich viele betroffene Eltern wissen nichts von ihrem rechtlichen Anspruch auf eine Kur. Tatsächlich muss man nicht extrem krank sein, um einen Antrag zu stellen. Es reicht, sich die gesundheitlichen Beschwerden vom Arzt attestieren zu lassen, die im Zusammenhang mit dem Alltag als Vater oder Mutter stehen. Das Attest wird bei der Krankenkasse eingereicht. Arbeitgeber müssen Eltern freistellen und das Gehalt weiterzahlen. Eine Kur können Eltern in Anspruch nehmen, solange Kinder unter 18 Jahren im Haushalt leben. Die Mehrzahl der Anträge werde akzeptiert, sagt Anne Schilling: „Derzeit lehnen die Krankenkassen nur etwa elf Prozent der Anträge ab, das ist ein guter Schnitt“.
„Natürlich kann man nicht in drei Wochen sein Leben ändern und alles ist wieder gut.“Astrid Novosel-datzer, Oberärztin