Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

Stress auf allen Ebenen

Arbeitnehm­er mit Kindern haben Anspruch auf eine Kur. Nur elf Prozent der Anträge werden abgelehnt

- Von Judith Hyams

Der Strand ist nur ein paar Schritte entfernt, die Luft duftet nach Meer, Wald und Wiesen, Möwen kreischen. Eine Gruppe Frauen spaziert mit Nordic-walking-stöcken über den Deich, vorneweg die dynamische Trainerin. Drei Wochen lang sind sie gemeinsam mit ihren Kindern in der Ostseeklin­ik Zingst – eine Auszeit vom Alltag, die allerdings nicht mit Urlaub zu verwechsel­n ist. Denn das Stöcke-training ist nur ein Bestandtei­l eines großen Katalogs von sportliche­n und physiologi­schen Maßnahmen, die die Mütter und auch die vereinzelt­en Väter durchlaufe­n. Auch die Seele bekommt viel Aufmerksam­keit.

„Unsere Patientinn­en haben zu Hause Stress in allen Bereichen“, sagt Oberärztin Astrid Novosel-datzer von der Ostseeklin­ik Zingst. „Das Kernproble­m ist vor allem die Mehrfachbe­lastung und die extreme Erschöpfun­g arbeitende­r Mütter und Väter. Aber der konkrete Anlass, eine Kur zu beantragen, ist meist der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Dabei wäre es besser, schon früher zu kommen und die Kur als Vorsorge und nicht als Notfallpla­n zu verstehen.“

„Der Schwerpunk­t liegt darauf, Müttern und Vätern aus dem Hamsterrad der

Verantwort­lichkeiten herauszuhe­lfen“, sagt Novosel-datzer: „Ein ganz wichtiges Thema ist bei uns die Selbstkomp­etenz und das Bewusstwer­den. Gerade Frauen häufen sich viel zu viele Aufgaben auf und sind ständig am Rotieren. Während der Kur soll also nicht nur entspannt, sondern auch an sich gearbeitet werden, damit die erzielten Erfolge langfristi­g wirken können. „Natürlich kann man nicht in drei Wochen sein Leben ändern und alles ist wieder gut“, sagt die Ärztin: „Aber wir versuchen, kleine Routinen mitzugeben, die man täglich praktizier­t.“

Problem der ständigen Verfügbark­eit Gerade die hohe Belastung von Müttern habe nicht nur mit dem realen Stress, sondern auch mit gesellscha­ftlichen und individuel­len Rollenbild­ern zu tun, sagt Anne Schilling: „Die Frauen haben oft mit einem schon längst überkommen­en traditione­llen Rollenbild zu kämpfen, das mit der Geburt der Kinder plötzlich wieder auftaucht. So wird von ihnen häufig die totale Irgendwann wird alles zu viel Verfügbark­eit für das Kind verlangt. Gleichzeit­ig wird im hohen Maße Multitaski­ng erwartet, der Alltag wird also zu einem ständigen Spagat“. Erstaunlic­h viele betroffene Eltern wissen nichts von ihrem rechtliche­n Anspruch auf eine Kur. Tatsächlic­h muss man nicht extrem krank sein, um einen Antrag zu stellen. Es reicht, sich die gesundheit­lichen Beschwerde­n vom Arzt attestiere­n zu lassen, die im Zusammenha­ng mit dem Alltag als Vater oder Mutter stehen. Das Attest wird bei der Krankenkas­se eingereich­t. Arbeitgebe­r müssen Eltern freistelle­n und das Gehalt weiterzahl­en. Eine Kur können Eltern in Anspruch nehmen, solange Kinder unter 18 Jahren im Haushalt leben. Die Mehrzahl der Anträge werde akzeptiert, sagt Anne Schilling: „Derzeit lehnen die Krankenkas­sen nur etwa elf Prozent der Anträge ab, das ist ein guter Schnitt“.

„Natürlich kann man nicht in drei Wochen sein Leben ändern und alles ist wieder gut.“Astrid Novosel-datzer, Oberärztin

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FOTO: ISTOCK/SVETIKD Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen, ist gar nicht so einfach. Eine Kur kann helfen, neue Energie zu tanken.

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