Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)
Tinder für Wein
Wenn zehn Hobbytrinker an einem Tisch sitzen und Wein probieren, stellt sich mindestens einer von ihnen als Klugscheißer heraus, der alles und noch mehr über genau diese Flasche und die Tante des Winzers weiß. Letztens erwischte ich einen mit dem Handy unterm Tisch. Schwieg natürlich aber stille. Seit einiger Zeit wird das Klugscheißen mittels Smartphone ziemlich leicht gemacht. Statt wie früher den Wein (hoffentlich genüsslich) mit geschlossenen Augen zu erschnüffeln und dann zu schmecken, geht die Erfahrung dessen heute radikal rational. Vivino heißt die Wunderapp. Einfach das Etikett fotografieren und ab damit ins weltweite Netz. Irgendeiner da draußen hat den Tropfen schon einmal probiert und seine höchst qualifizierte Meinung dazu kundgetan. Wohl viele taten dies, mittlerweile sind auf diesem Tinder für Bacchanten neun Millionen verschiedene Weine gelistet. Und man versammelt dort viel individuelles Wissen, wie ich im Selbstversuch mit einem seltenen Sherry erfuhr. 98 Geschmackstester können mit Erlebnissen von Eiche über Käse bis Melasse in der Nase wohl nicht lügen und geben dazu jede Menge kluge Speisenempfehlungen.
Zusätzlich erfahre ich natürlich, wo ich ihn – und vor allen Dingen, wo ich ihn am billigsten – erwerben kann. Sollte schon hilfreich sein diese App, wenn man im Supermarkt vorm Flaschenregal steht. Im dortigen zweiten Selbstversuch wurde allerdings aus dem badischen Gutedel für 2.99 ein Spätburgunder namens Attilafelsen gleicher vernebelter Herkunft.
Die Nerds unter den Vivino-usern scannen sogar ganze Weinkarten und verfügen so über einen riesigen virtuellen Keller. Ich fahre lieber zum Winzer und probiere. Und ich lasse mir von Freunden und Berufskollegenneueweineempfehlen. Wenn‘s mir dort nicht schmeckt, lässt sich dann Aug‘ in Aug‘ vortrefflich streiten. Geht mit dem Klugscheißer Tinder nicht.