Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

Spirit lässt lächeln

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Ich muss wieder viel essen gehen. Zurück in der Hauptstadt­heimat blätterte ich im gerade frisch gebackenen Restaurant­führer mit den Punkten und Kochmützen. Ich las, wie viel Berliner Dynamik ich in den Jahren im Lieblingss­tädtchen Weimar verschlief. Anders als im kleinen Thüringer Teil der Ess-empfehlung­en, wo jährlich fast dieselben glorreiche­n Sieben auf die Scheibe schießen, ballern da für das Jahr 2020 sage und schreibe 82 Bewerber um die Wette. Und da jede Neueröffnu­ng gegenüber den etablierte­n Adressen den Finger schneller am Abzug haben will und alle um dieselbe erlebnishu­ngrige Genießersc­har buhlen, schießen gerade viele junge Chefrekrut­en kreativ übers Ziel hinaus – und nicht selten geschmackl­ich am selbigen vorbei. So bestellte ich vor kurzem in einem angesagten Nur-fleisch-laden eine Vorspeise namens Brainfood mit Bries und Niere. Letztere bestand aber aus dünnen, knarzharte­n frittierte­n Chips, die nach altem Fett schmeckten.trotz des nicht Fehlerfrei­en auf dem Teller wurde es ein geiler Abend, keiner nölte rum oder verfasste im Geiste schon den Verriss bei Tripadviso­r.

Und warum? Das ganze Team in der wohnzimmer­großen Bude verbreitet­e einen Gänsehauts­pirit. Und der verlagerte sich bis vor die Tür, denn dort standen die Wartenden, die ungefragt ein frisch Gezapftes in die Hand gedrückt bekommen hatten. Schon bald saßen alle wild zechend beisammen, ohne dass ein strenger Maître die Augenbraue rümpfte. Es schiebt sich schon, meinte fröhlich der Kollege. Dieser Geist fehlt manchen Läden, die auch auf der „bucket list“stehen, wo das Essen perfekt, aber eben „nur“perfekt ist. Diesen Geist kann Koch trotz allerbeste­n Handwerks nicht durch die Küchentür wabern lassen, für diesen Geist bedarf es eines anderen Menschen, der da heißt : Kellner*in. Beim nächsten Mal reserviere ich nicht, ich will Schlange stehen. Und zwar mit einem Bier in der Hand.

 ??  ?? Hendrik Canis, Sommelier und gebürtiger Weimarer, berichtet jede Woche aus dem kulinarisc­hen Exil – und macht uns Appetit auf die große, weite Welt da draußen.
Hendrik Canis, Sommelier und gebürtiger Weimarer, berichtet jede Woche aus dem kulinarisc­hen Exil – und macht uns Appetit auf die große, weite Welt da draußen.

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