Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)
Wie der Cocktail klingt
Uraufführung im Zughafen: Komponist Leo Sandner hat eine „Schnapsidee“vertont
Mitunter ist das eine schöne Vorstellung: sein Wein- oder Bierglas aus dem Foyer mit in den Konzertsaal zu nehmen, um dort versonnen daran zu nippen, während, sagen wir mal, Mahlers Trinklied vom Jammer der Erde erklingt, in dem ja Wein eine Rolle spielt. Obwohl manche Leute zu Mahler unbedingt einen Whisky bevorzugten.
Zur „Fledermaus“von Strauß sollte Champagner im Publikum fließen, zu seinem „Zigeunerbaron“der Tokajer. Man könnte derart weinselig auch ein bisschen plaudern. Dann fiele häufiges Husten und gelegentliches Kleinkindgewimmer kaum noch ins Gewicht.
Kleines Orchester mit Musikern der Staatskapelle Weimar
Im Erfurter Zughafen haben sie dergleichen jetzt versucht, in einem vergleichsweise lockeren Konzertformat für zeitgenössische Orchesterklänge, das den Titel „Was für eine Schnapsidee“trug. In der ambientebeleuchteten Halle 6 dirigierte der Komponist Leo Sandner unter anderem die Uraufführung seiner insgesamt halbstündigen Programmmusik, die als „musikalische Cocktailparty“daherkam.
Sandner, offenbar Stammgast einer einschlägigen, nach Hemingway
benannten Bar in Erfurt, vertonte sechs Kreationen des Hauses, von denen nur die erste auf den Namenspatron zurückgeht: Death in the afternoon. Champagner mit Absinth.
Mit seinem aus zwanzig Musikern der Staatskapelle Weimar bestehenden Orchester machte er hier ein sich wohlig in den Körper schleichendes Gift hörbar, wie in einem Klassiker des alten Avantgardekinos. Sandner interpretierte besonders hier, und das ist doch einigermaßen neuartig, weniger ein Getränk als dessen Wirkung.
In anderen Fällen ließ er sich eher von dessen Titel oder Kontext inspirieren. „Die Tränen des Harlekins“zum Beispiel reimt sozusagen das bitter grundierende Drittel des Cocktails, nämlich Wermut, auf Schwermut: übertragen in die Seelentiefe von Bass und Celli, derweil Geigen, Bläser und Marimbaphon darüber munter zu tänzeln versuchen. Der Cocktail „Nichts!“soll dem Prototyp des mäßig erfolgreichen, aber unverdrossenen Schürzenjägers gewidmet sein, weshalb zu Beginn und am Ende zur Jagd geblasen wird.
Die sechs Vier- bis Viereinhalbminüter rahmten an diesem Abend Sandners „Kontraste“für Altsaxophon und Orchester, die die Thüringen Philharmonie Gotha bereits 2014 in der Predigerkirche Erfurt uraufführte.
Schon während der erste Cocktail erklang, sprach eine Dame im Publikum über den ihren: „Der säuft sich weg!“Und nuckelte nochmal am Strohhalm. Überhaupt waren die Gewichte unter den Zuhörern ungleich verteilt: ob sie lauschen oder plauschen sollten.
Lauschen oder plauschen, das war hier die Frage
„Leo Sandner“, liest man in seinem Internetauftritt, „fühlt sich nicht als Künstler, er ist Macher – immer im Dienste des Publikums, das ihn und seine Projekte erlebt.“Insofern hat er womöglich bewusst provoziert, dass die Konzentration nicht vollständig auf seiner Musik liegt.
Dabei offenbart diese, sofern man nicht abgelenkt ist, eine gewisse Raffinesse. Sie nimmt, von einer Beethoven-anleihe im kastagnettengetränkten spanischen Finale abgesehen, Motive der musikalischen Moderne, zitiert oder parodiert sie, mixt sie mitunter neu und frisch zusammen.
Und seine dem sinfonischen Jazz verpflichteten „Kontraste“, in denen Roger Hanschel sein Altsaxophon behutsam, aber zielstrebig von hinten durch die Orchesterbrust drückte, um die Sinfoniker in die Jazzformation zu treiben, kamen in diesem Umfeld als hochprozentiger Longdrink daher.
Es liegt aber eine gewisse Ironie darin, dass diese durchkomponierte Getränkekarte in einem klassischen Konzertsaal einen tiefergehenden Rausch verursacht hätte. Jedenfalls hat die Präsentation den Berichterstatter nicht so recht überzeugen können. Sie setzt an einem alternativen Spielort auf ein doch recht konventionelles Orchesterpodium. Sie macht nicht aus der ganzen Veranstaltung eine Bar, sondern zimmert eine links neben die Musiker: ein Brett auf Getränkekisten. Dahinter stand der Erfurter Kammersänger Máté Sólyom-nagy als Barkeeper, der nur einem Prolog seinen Bariton leihen musste, um ansonsten ein bisschen Thekenlatein abzusondern. Da kam er, bei aller Souveränität des Auftritts, schnell an schauspielerische Grenzen.
„Jeder hier die Regel bricht: Mit Alkohol, da spielt man nicht“, sang er eingangs unter anderem. Insofern beging auch Leo Sandner einen sehr verständlichen Regelbruch, hinter dem eine durchaus originelle Schnapsidee stand. Deren Umsetzung nur blieb auf halber Strecke stehen. Sie verlangte sozusagen wohl entweder, kontrastweise, nach vollständiger Abstinenz oder nach dem hemmungslosen Vollrausch.