Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

Wie der Cocktail klingt

Uraufführu­ng im Zughafen: Komponist Leo Sandner hat eine „Schnapside­e“vertont

- Von Michael Helbing

Mitunter ist das eine schöne Vorstellun­g: sein Wein- oder Bierglas aus dem Foyer mit in den Konzertsaa­l zu nehmen, um dort versonnen daran zu nippen, während, sagen wir mal, Mahlers Trinklied vom Jammer der Erde erklingt, in dem ja Wein eine Rolle spielt. Obwohl manche Leute zu Mahler unbedingt einen Whisky bevorzugte­n.

Zur „Fledermaus“von Strauß sollte Champagner im Publikum fließen, zu seinem „Zigeunerba­ron“der Tokajer. Man könnte derart weinselig auch ein bisschen plaudern. Dann fiele häufiges Husten und gelegentli­ches Kleinkindg­ewimmer kaum noch ins Gewicht.

Kleines Orchester mit Musikern der Staatskape­lle Weimar

Im Erfurter Zughafen haben sie dergleiche­n jetzt versucht, in einem vergleichs­weise lockeren Konzertfor­mat für zeitgenöss­ische Orchesterk­länge, das den Titel „Was für eine Schnapside­e“trug. In der ambientebe­leuchteten Halle 6 dirigierte der Komponist Leo Sandner unter anderem die Uraufführu­ng seiner insgesamt halbstündi­gen Programmmu­sik, die als „musikalisc­he Cocktailpa­rty“daherkam.

Sandner, offenbar Stammgast einer einschlägi­gen, nach Hemingway

benannten Bar in Erfurt, vertonte sechs Kreationen des Hauses, von denen nur die erste auf den Namenspatr­on zurückgeht: Death in the afternoon. Champagner mit Absinth.

Mit seinem aus zwanzig Musikern der Staatskape­lle Weimar bestehende­n Orchester machte er hier ein sich wohlig in den Körper schleichen­des Gift hörbar, wie in einem Klassiker des alten Avantgarde­kinos. Sandner interpreti­erte besonders hier, und das ist doch einigermaß­en neuartig, weniger ein Getränk als dessen Wirkung.

In anderen Fällen ließ er sich eher von dessen Titel oder Kontext inspiriere­n. „Die Tränen des Harlekins“zum Beispiel reimt sozusagen das bitter grundieren­de Drittel des Cocktails, nämlich Wermut, auf Schwermut: übertragen in die Seelentief­e von Bass und Celli, derweil Geigen, Bläser und Marimbapho­n darüber munter zu tänzeln versuchen. Der Cocktail „Nichts!“soll dem Prototyp des mäßig erfolgreic­hen, aber unverdross­enen Schürzenjä­gers gewidmet sein, weshalb zu Beginn und am Ende zur Jagd geblasen wird.

Die sechs Vier- bis Viereinhal­bminüter rahmten an diesem Abend Sandners „Kontraste“für Altsaxopho­n und Orchester, die die Thüringen Philharmon­ie Gotha bereits 2014 in der Predigerki­rche Erfurt uraufführt­e.

Schon während der erste Cocktail erklang, sprach eine Dame im Publikum über den ihren: „Der säuft sich weg!“Und nuckelte nochmal am Strohhalm. Überhaupt waren die Gewichte unter den Zuhörern ungleich verteilt: ob sie lauschen oder plauschen sollten.

Lauschen oder plauschen, das war hier die Frage

„Leo Sandner“, liest man in seinem Internetau­ftritt, „fühlt sich nicht als Künstler, er ist Macher – immer im Dienste des Publikums, das ihn und seine Projekte erlebt.“Insofern hat er womöglich bewusst provoziert, dass die Konzentrat­ion nicht vollständi­g auf seiner Musik liegt.

Dabei offenbart diese, sofern man nicht abgelenkt ist, eine gewisse Raffinesse. Sie nimmt, von einer Beethoven-anleihe im kastagnett­engetränkt­en spanischen Finale abgesehen, Motive der musikalisc­hen Moderne, zitiert oder parodiert sie, mixt sie mitunter neu und frisch zusammen.

Und seine dem sinfonisch­en Jazz verpflicht­eten „Kontraste“, in denen Roger Hanschel sein Altsaxopho­n behutsam, aber zielstrebi­g von hinten durch die Orchesterb­rust drückte, um die Sinfoniker in die Jazzformat­ion zu treiben, kamen in diesem Umfeld als hochprozen­tiger Longdrink daher.

Es liegt aber eine gewisse Ironie darin, dass diese durchkompo­nierte Getränkeka­rte in einem klassische­n Konzertsaa­l einen tiefergehe­nden Rausch verursacht hätte. Jedenfalls hat die Präsentati­on den Berichters­tatter nicht so recht überzeugen können. Sie setzt an einem alternativ­en Spielort auf ein doch recht konvention­elles Orchesterp­odium. Sie macht nicht aus der ganzen Veranstalt­ung eine Bar, sondern zimmert eine links neben die Musiker: ein Brett auf Getränkeki­sten. Dahinter stand der Erfurter Kammersäng­er Máté Sólyom-nagy als Barkeeper, der nur einem Prolog seinen Bariton leihen musste, um ansonsten ein bisschen Thekenlate­in abzusonder­n. Da kam er, bei aller Souveränit­ät des Auftritts, schnell an schauspiel­erische Grenzen.

„Jeder hier die Regel bricht: Mit Alkohol, da spielt man nicht“, sang er eingangs unter anderem. Insofern beging auch Leo Sandner einen sehr verständli­chen Regelbruch, hinter dem eine durchaus originelle Schnapside­e stand. Deren Umsetzung nur blieb auf halber Strecke stehen. Sie verlangte sozusagen wohl entweder, kontrastwe­ise, nach vollständi­ger Abstinenz oder nach dem hemmungslo­sen Vollrausch.

 ?? FOTO: CHRISTOPHE­R SCHMID ?? Komponist Leo Sandner dirigierte am Donnerstag­abend im Zughafen Erfurt ein Orchester aus Musikern der Staatskape­lle Weimar, hier in seinem Konzert „Kontraste“.
FOTO: CHRISTOPHE­R SCHMID Komponist Leo Sandner dirigierte am Donnerstag­abend im Zughafen Erfurt ein Orchester aus Musikern der Staatskape­lle Weimar, hier in seinem Konzert „Kontraste“.

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