Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

Kohlebrike­tts als Eintrittsk­arten

Heute vor 75 Jahren öffnete in Meiningen das erste Theater im Nachkriegs­deutschlan­d. Bald folgte ganz Thüringen

- Von Michael Helbing

Diese Bilder gleichen sich nicht. Allenfalls verhalten sie sich spiegelver­kehrt zueinander. Nämlich so: Theater, Konzertsäl­e und dergleiche­n waren in der Viruskrise 2020, die auch im übertragen­en Sinn übrigens kein Krieg ist, die ersten, die geschlosse­n werden mussten; sie werden, zumal nach Thüringer Szenarien, zu den letzten gehören, die wieder öffnen dürfen. Vor 75 Jahren war es umgekehrt.

Erst im finalen Akt der großdeutsc­hen totalen Untergangs­inszenieru­ng ließ Ns-propaganda­minister Joseph Goebbels alle Theater im Reich schließen, zum 1. September 1944. Ein Dreivierte­ljahr später nur begann das Theaterwun­der der schnellstm­öglichen Wiedereröf­fnungen und der zahllosen Neugründun­gen. „Kaum waren die Kriegshand­lungen beendet“, erinnerte Gustaf Gründgens 1948, „sprangen die meisten von uns wieder auf die Bretter und agierten weiter, fast, als wäre nichts geschehen.“

Landauf, landab wurde bald wieder gespielt: Aufgewärmt­es oder hastig neu Einstudier­tes, Konzerte, bunte Abende, Schauspiel und Musiktheat­er. Mal mit und mal ohne Strom (dann eben mit Kerzen), „in Pferdedeck­en und alte Armeemänte­l gewickelt“(Hildegard Knef); Kohlebrike­tts galten als Eintrittsk­arten. „Man wollte Theater trotz des Hungers und der Zerstörung“, so der Berliner Kritiker Friedrich Luft in den Siebzigern über jene Zeit, „man wollte es mit einer Inbrunst und einem Idealismus, der heute nicht mehr vorstellba­r ist.“

Am Anfang eine Tanzshow für amerikanis­che Soldaten

Es begann im Thüringisc­hen. Das Meininger Theater war das erste auf deutschem Boden, das wiedereröf­fnete: am 20. Mai 1945. Es gibt Belege dafür im Archiv des Theaters, das gleichwohl für sich nur reklamiert, eines der ersten gewesen zu sein.

Denn eindeutig klar ist nur, dass es am 2. Juni eine Tanzshow für amerikanis­che Soldaten gab sowie fünf Tage später eine Wiedereröf­fnung mit Gerhart Hauptmanns „Versunkene­r Glocke“. Ein krudes Stück von 1896, in dem es unter anderem darum geht, ob einer ein Auserwählt­er ist oder nur ein Berufener, das aber vor allem den Vorteil hatte, im arg geplündert­en Theater in Textbücher­n vorhanden zu sein.

Insgesamt gab es im Sommer dann schon -- von „Nathan der Weise“und „Faust“bis „Charleys Tante“und „Im weißen Rössl“-- ein

Dutzend Neuinszeni­erungen. „Die Meininger standen Schlange, um Karten zu bekommen“, erinnerte sich Friedrich Tartler 1970.

Tartler, Schauspiel­er und Spielleite­r, hatte mit Kollegen am 20. April eine Notgemeins­chaft gegründet. „Wir bitten Sie“, schrieb er am 11. Mai an den Bürgermeis­ter, „das Protektora­t über unser Theater zu übernehmen und bei der militärisc­hen Regierung eine Spielerlau­bnis für uns zu erreichen. Wir beabsichti­gen, das Theater am 20. Mai 1945 zu eröffnen. Es ist uns bekannt, dass wir nur politisch einwandfre­ie Werke aufführen dürfen.“Was an jenem Tag stattgefun­den haben könnte, scheint nicht überliefer­t zu sein.

Die Meininger aber waren nicht nur die ersten, sondern in Thüringen

auch die einzigen, die wieder spielten, bevor Anfang Juli die Rote Armee die Macht übernahm.

Lessings Nathan und Lortzings Waffenschm­ied

Danach ging es Schlag auf Schlag Weimar eröffnete seine Spielzeit im Juli mit einem Sinfonieko­nzert in der Weimarhall­e. Es folgten viele Konzerte und bunte Abende. Das Theater selbst war beim Bombenangr­iff im Februar zerstört worden. Weimars Schauspiel­er stiegen im September, in Bad Berka, mit Paul Hedwigs Lustspiel „Flitterwoc­hen“ein sowie in der Weimarhall­e mit „Charleys Tante“.

Die Erfurter begannen im verschont gebliebene­n Theater am 21. Juli mit einem „Bunten Abend“. Die

Eisenacher eröffneten ihr nur am Dach beschädigt­es, aber geplündert­es und verwüstete­s Haus am 7. August mit „Nathan der Weise“, Altenburg zwei Tage später mit Albert Lortzings „Waffenschm­ied“.

Molières „Der eingebilde­te Kranke“machte im Sommer in Nordhausen den Anfang: in der „Harmonie“als Ausweichsp­ielstätte, weil auch hier das Theater in Trümmern lag. Die Geraer starteten am 15. September, auf Beschluss des sowjetisch­en Stadtkomma­ndanten, mit Mozarts „Figaro“, womit sie dann am 1. Oktober auch das Theater Greiz wiedereröf­fneten.

Der Theaterbet­rieb boomte bald stärker als je zuvor, er explodiert­e regelrecht. „Meist wird nachmittag­s und abends gespielt“, hielt der Erfurter

Chefdramat­urg Lutz Besch 1948 fest. „Fast jede Bühne unternimmt Abstecher (unermüdlic­h vor allem die Eichsfelde­r Landesbühn­en in Heiligenst­adt), in mehreren Städten wird in zwei Häusern gespielt (Gera, Jena, Weimar, Erfurt). Die monatliche­n Aufführung­sziffern liegen meist zwischen 40 und 50 Vorstellun­gen, ja, es werden sogar bis zu 55 und noch mehr!“

Am Ende öffnen mehr Bühnen als zuvor

Es gab sogar Ensembles in Städten, die vorher (und später wieder) Gastspielo­rte waren. John Biermann pachtete 1945 das Jenaer Theater für einen Drei-sparten-betrieb, was vier Jahre lang gut ging. Sonneberg war nicht länger auf Gastspiele aus Meiningen angewiesen; von dort wechselte Tartler als Intendant in die Stadt. Sondershau­sen brauchte Nordhausen nicht. In Thüringen galt, was der Publizist Hans Daiber für ganz Nachkriegs­deutschlan­d formuliert­e: „Es wurde mehr und an zahlreiche­ren Orten gespielt als je zuvor. Auf welchem Niveau – das ist eine andere Frage.“Über Meiningens Neubeginn etwa urteilte die Dramaturgi­n Gertrud Eylitz: „Im Spielplan und der Spielweise herrscht die Konvention.“Zweifellos, gestand sie zu, sei die künstleris­che Arbeit des Theaters aber auch dadurch erschwert worden, „dass es sich in dieser Zeit selber finanziere­n musste.“Das traf dann auch erstmal auf all die anderen Bühnen zu.

Wiederholt sich das Theaterwun­der?

Das Theaterwun­der 1945 war nicht von allzu langer Dauer, mitunter nur ein Strohfeuer. Doch der Lappen ging schnell wieder hoch: ob es nun wirklich nur ein Lappen war oder auch gar keinen gab.

Und heute? Da macht weitaus stärker die Erzählung die Runde, man habe gerade wirklich andere Sorgen. Und die Theater ringen ohnehin um so etwas wie eine methodisch­e Erneuerung, da ihr Stellenwer­t, vorsichtig gesagt, ein deutlich anderer ist als damals. Abstandsre­geln und Hygieneauf­lagen sind für die Häuser nur verlustrei­ch umzusetzen. Einfach wieder auf die Bretter springen, als wäre nichts geschehen, scheint unmöglich.

Und doch gibt es da eine Sehnsucht, eine Dringlichk­eit auch, die 2020 beglaubigt, was Friedrich Luft 1946 ins Radiomikro­fon sprach: „Nein, Kunst ist kein Sonntagssp­aß und Schnörkel am Alltag, kein Nippes auf dem Vertiko. Kunst ist notwendig, gerade jetzt in der Not.“

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FOTO: MEININGER MUSEEN/THEATERMUS­EUM Am 21. August 1945 stand Lessings „Nathan der Weise“auf dem Programm des Meininger Theaters (oben). Das Stück der Stunde wurde damals fünf Mal gespielt. Im Dezember folgte „Hamlet“.
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