Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)
Kohlebriketts als Eintrittskarten
Heute vor 75 Jahren öffnete in Meiningen das erste Theater im Nachkriegsdeutschland. Bald folgte ganz Thüringen
Diese Bilder gleichen sich nicht. Allenfalls verhalten sie sich spiegelverkehrt zueinander. Nämlich so: Theater, Konzertsäle und dergleichen waren in der Viruskrise 2020, die auch im übertragenen Sinn übrigens kein Krieg ist, die ersten, die geschlossen werden mussten; sie werden, zumal nach Thüringer Szenarien, zu den letzten gehören, die wieder öffnen dürfen. Vor 75 Jahren war es umgekehrt.
Erst im finalen Akt der großdeutschen totalen Untergangsinszenierung ließ Ns-propagandaminister Joseph Goebbels alle Theater im Reich schließen, zum 1. September 1944. Ein Dreivierteljahr später nur begann das Theaterwunder der schnellstmöglichen Wiedereröffnungen und der zahllosen Neugründungen. „Kaum waren die Kriegshandlungen beendet“, erinnerte Gustaf Gründgens 1948, „sprangen die meisten von uns wieder auf die Bretter und agierten weiter, fast, als wäre nichts geschehen.“
Landauf, landab wurde bald wieder gespielt: Aufgewärmtes oder hastig neu Einstudiertes, Konzerte, bunte Abende, Schauspiel und Musiktheater. Mal mit und mal ohne Strom (dann eben mit Kerzen), „in Pferdedecken und alte Armeemäntel gewickelt“(Hildegard Knef); Kohlebriketts galten als Eintrittskarten. „Man wollte Theater trotz des Hungers und der Zerstörung“, so der Berliner Kritiker Friedrich Luft in den Siebzigern über jene Zeit, „man wollte es mit einer Inbrunst und einem Idealismus, der heute nicht mehr vorstellbar ist.“
Am Anfang eine Tanzshow für amerikanische Soldaten
Es begann im Thüringischen. Das Meininger Theater war das erste auf deutschem Boden, das wiedereröffnete: am 20. Mai 1945. Es gibt Belege dafür im Archiv des Theaters, das gleichwohl für sich nur reklamiert, eines der ersten gewesen zu sein.
Denn eindeutig klar ist nur, dass es am 2. Juni eine Tanzshow für amerikanische Soldaten gab sowie fünf Tage später eine Wiedereröffnung mit Gerhart Hauptmanns „Versunkener Glocke“. Ein krudes Stück von 1896, in dem es unter anderem darum geht, ob einer ein Auserwählter ist oder nur ein Berufener, das aber vor allem den Vorteil hatte, im arg geplünderten Theater in Textbüchern vorhanden zu sein.
Insgesamt gab es im Sommer dann schon -- von „Nathan der Weise“und „Faust“bis „Charleys Tante“und „Im weißen Rössl“-- ein
Dutzend Neuinszenierungen. „Die Meininger standen Schlange, um Karten zu bekommen“, erinnerte sich Friedrich Tartler 1970.
Tartler, Schauspieler und Spielleiter, hatte mit Kollegen am 20. April eine Notgemeinschaft gegründet. „Wir bitten Sie“, schrieb er am 11. Mai an den Bürgermeister, „das Protektorat über unser Theater zu übernehmen und bei der militärischen Regierung eine Spielerlaubnis für uns zu erreichen. Wir beabsichtigen, das Theater am 20. Mai 1945 zu eröffnen. Es ist uns bekannt, dass wir nur politisch einwandfreie Werke aufführen dürfen.“Was an jenem Tag stattgefunden haben könnte, scheint nicht überliefert zu sein.
Die Meininger aber waren nicht nur die ersten, sondern in Thüringen
auch die einzigen, die wieder spielten, bevor Anfang Juli die Rote Armee die Macht übernahm.
Lessings Nathan und Lortzings Waffenschmied
Danach ging es Schlag auf Schlag Weimar eröffnete seine Spielzeit im Juli mit einem Sinfoniekonzert in der Weimarhalle. Es folgten viele Konzerte und bunte Abende. Das Theater selbst war beim Bombenangriff im Februar zerstört worden. Weimars Schauspieler stiegen im September, in Bad Berka, mit Paul Hedwigs Lustspiel „Flitterwochen“ein sowie in der Weimarhalle mit „Charleys Tante“.
Die Erfurter begannen im verschont gebliebenen Theater am 21. Juli mit einem „Bunten Abend“. Die
Eisenacher eröffneten ihr nur am Dach beschädigtes, aber geplündertes und verwüstetes Haus am 7. August mit „Nathan der Weise“, Altenburg zwei Tage später mit Albert Lortzings „Waffenschmied“.
Molières „Der eingebildete Kranke“machte im Sommer in Nordhausen den Anfang: in der „Harmonie“als Ausweichspielstätte, weil auch hier das Theater in Trümmern lag. Die Geraer starteten am 15. September, auf Beschluss des sowjetischen Stadtkommandanten, mit Mozarts „Figaro“, womit sie dann am 1. Oktober auch das Theater Greiz wiedereröffneten.
Der Theaterbetrieb boomte bald stärker als je zuvor, er explodierte regelrecht. „Meist wird nachmittags und abends gespielt“, hielt der Erfurter
Chefdramaturg Lutz Besch 1948 fest. „Fast jede Bühne unternimmt Abstecher (unermüdlich vor allem die Eichsfelder Landesbühnen in Heiligenstadt), in mehreren Städten wird in zwei Häusern gespielt (Gera, Jena, Weimar, Erfurt). Die monatlichen Aufführungsziffern liegen meist zwischen 40 und 50 Vorstellungen, ja, es werden sogar bis zu 55 und noch mehr!“
Am Ende öffnen mehr Bühnen als zuvor
Es gab sogar Ensembles in Städten, die vorher (und später wieder) Gastspielorte waren. John Biermann pachtete 1945 das Jenaer Theater für einen Drei-sparten-betrieb, was vier Jahre lang gut ging. Sonneberg war nicht länger auf Gastspiele aus Meiningen angewiesen; von dort wechselte Tartler als Intendant in die Stadt. Sondershausen brauchte Nordhausen nicht. In Thüringen galt, was der Publizist Hans Daiber für ganz Nachkriegsdeutschland formulierte: „Es wurde mehr und an zahlreicheren Orten gespielt als je zuvor. Auf welchem Niveau – das ist eine andere Frage.“Über Meiningens Neubeginn etwa urteilte die Dramaturgin Gertrud Eylitz: „Im Spielplan und der Spielweise herrscht die Konvention.“Zweifellos, gestand sie zu, sei die künstlerische Arbeit des Theaters aber auch dadurch erschwert worden, „dass es sich in dieser Zeit selber finanzieren musste.“Das traf dann auch erstmal auf all die anderen Bühnen zu.
Wiederholt sich das Theaterwunder?
Das Theaterwunder 1945 war nicht von allzu langer Dauer, mitunter nur ein Strohfeuer. Doch der Lappen ging schnell wieder hoch: ob es nun wirklich nur ein Lappen war oder auch gar keinen gab.
Und heute? Da macht weitaus stärker die Erzählung die Runde, man habe gerade wirklich andere Sorgen. Und die Theater ringen ohnehin um so etwas wie eine methodische Erneuerung, da ihr Stellenwert, vorsichtig gesagt, ein deutlich anderer ist als damals. Abstandsregeln und Hygieneauflagen sind für die Häuser nur verlustreich umzusetzen. Einfach wieder auf die Bretter springen, als wäre nichts geschehen, scheint unmöglich.
Und doch gibt es da eine Sehnsucht, eine Dringlichkeit auch, die 2020 beglaubigt, was Friedrich Luft 1946 ins Radiomikrofon sprach: „Nein, Kunst ist kein Sonntagsspaß und Schnörkel am Alltag, kein Nippes auf dem Vertiko. Kunst ist notwendig, gerade jetzt in der Not.“