Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

Der Traum vom Fliegen

- Jakob Maschke über die Bewunderun­g der Basketball-ikone Michael Jordan, die gerade wieder auflebt

Er sei so alt wie die Menschheit selbst, sagt man über den Traum vom Fliegen. Insofern ist es fast verwunderl­ich, dass es bis ins 18. Jahrhunder­t dauerte, ehe sich erstmals ein bemanntes Flugobjekt erfolgreic­h in die Lüfte erhob. Nachdem dieses Experiment zwei Monate zuvor bereits mit einem Schaf, einer Ente und einem Hahn an „Bord“geglückt war, wobei der Hahn den Flug nicht überstand, gelang zwei Franzosen am 21. November 1783 die erste freie Luftfahrt in der Geschichte der Menschheit. Pilâtre de Rozier und François d’arlandes flogen mit einem Heißluftba­llon der weltbekann­ten Gebrüder Montgolfiè­r für 25 Minuten etwa zehn Kilometer weit über die Straßen von Paris in die kleine Gemeinde Gentilly.

Aber ohne Hilfsmitte­l, wie ein Vogel im Wind über die Dächer zu gleiten, blieb ein kühner Traum. Der auch mich in meinem Kinderzimm­er regelmäßig heimsuchte: Da rannte ich nun, wedelte eifrig mit den Armen – und hob zu meinem Erstaunen langsam ab, gewann an Höhe, glitt dahin, während die Häuser und Straßen meiner Heimat immer kleiner wurden.

Es war der einzige Traum, bei dem ich jedes Mal traurig war, als mich der Wecker in den Schulallta­g zurückholt­e, mir binnen Sekunden die Flügel stutzte und mich plump auf den Füßen neben meinem Bett landen ließ.

In jener Zeit erlangte ein Mann aus New York gerade Berühmthei­t, über den man später sagen sollte, seine Luftakroba­tik sei wahrschein­lich dem Zustand des Fliegens am nächsten gekommen: Michael Jordan. Mit seinem virtuossch­werelosen Basketball­spiel erwarb er sich die ehrfürchti­gen Beinamen „Air“und „His Airness“.

Die Bilder, wenn er an der über vier Meter vom Korb entfernten Freiwurfli­nie absprang, mit herausgest­reckter Zunge durch die Luft schwebte und den Ball in den Korb stopfte, stellten die Grenzen der Schwerkraf­t in Frage und haben sich jedem Sportfan der Neunzigerj­ahre ins Gedächtnis eingebrann­t. Und das, obwohl er mit 1,98 Metern für einen Basketball­er eher klein war. Sein Ausrüster Nike, den er ursprüngli­ch verschmäht­e, stieg durch den massenhaft­en Verkauf von „Air Jordan“-schuhen zum Weltkonzer­n auf.

Die ungeheure Leichtigke­it, mit der er zum Korb abhob, die Gegner düpierte, scheinbar nach Belieben punktete, seine Chicago Bulls zu ihrem ersten Titel in der besten Liga der Welt, der NBA, und schließlic­h fünf weiteren führte, begeistert­e nicht nur die Massen in seiner Heimat. Durch ihn und das „Dream Team“der USA, das bei den Olympische­n Spielen 1992 in Barcelona brillierte und überlegen die Goldmedail­le gewann, wurde Basketball auf der ganzen Welt populär. Auch bei mir, der ich als Grundschül­er – in der Nacht und nun auch am Tag – davon träumte, so anmutig fliegen zu können wie „Air“Jordan.

So wie die Erinnerung an Jordan nach dessen Karriereen­de im Jahre 2003 verstaubte (kurz zuvor gelangen ihm als 40-Jähriger noch einmal 43 Punkte in einem Spiel, bis heute in diesem Alter unerreicht), entschwand­en mit ihr die kindlichen Träume vom Fliegen.

Bis vor einem Monat. Am 19. April erschienen die ersten beiden Folgen einer zehnteilig­en Dokumentat­ion auf Netflix über den besten Basketball­er aller Zeiten. „The Last Dance“gewährt Einblicke in das Leben und Wirken des Michael Jeffrey Jordan, mit bisher unveröffen­tlichten Aufnahmen vor und hinter den Kulissen seiner letzten Meistersai­son 1997/98 mit den Bulls, dem „letzten Tanz“.

Man lernt den knallharte­n Wettkämpfe­r kennen, der seine Teamkamera­den manchmal auf fast unmenschli­che Art antrieb, im Versuch, sie auf sein unerreichb­ares Level zu heben. Den getriebene­n Promi, der nur im Hotelzimme­r oder beim Golfspiele­n Zeit für sich hatte und nach der Ermordung seines Vaters kurzzeitig seine Karriere beendete. Und vor allem darf man wieder teilhaben an der schwerelos­en Magie seines Spiels. Einer Magie, die erahnen lässt, wie es ausgesehen haben muss, als die beiden Franzosen vor fast 240 Jahren mit dem Heißluftba­llon abhoben, um ihrerseits Geschichte zu schreiben.

So war er tatsächlic­h eines Nachts, ganz unverhofft, wieder da: der Traum vom Fliegen.

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