Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)
Die Angst vor einem zweiten Lockdown
In Nordrhein-westfalen protestieren Eltern und Kinder gegen Schulschließungen. Scharfe Kritik an Landesregierung
Florians Rückkehr in die Normalität war eigentlich vorgesehen für Donnerstag. Da sollte der Fünfjährige seinen Geburtstag im Kindergarten nachfeiern, endlich; im März hatte das ausfallen müssen wegen Corona. Jetzt fällt die Nachfeier im Juni abermals aus. „Der Junge hat geweint“, sagt seine Mutter Magdalena Sawaczky: „Wir sind so wütend und frustriert.“
Schon am Mittwoch war sie hier, vor dem Eingang zum Tönnieswerksgelände; jetzt, am Donnerstag, ist die 37-Jährige wieder da. Eine kleine Gruppe Demonstranten, überwiegend Mütter mit ihren Kindern, protestiert gegen die Zustände in der Fleischfabrik. „Kein Verständnis“steht auf ihren Plakaten, „Fürsorgepflicht“oder „Schulen/kitas geschlossen. Verwirrte Kinder. Verzweifelte Eltern“. Und für Magdalena Sawaczky ist Corona nur mitschuldig, denn sie trägt dieses Schild: „Können Sie noch ruhig schlafen, Herr Tönnies?“
Schulen wieder zu im Kreis Gütersloh in Ostwestfalen. Kitas wieder zu. Wegen ungezählter Infektionen in der Fleischfabrik. Bis zum Donnerstagabend stieg die Zahl nach der Auswertung von gut 1100 Tests auf 730. Für rund 7000 Menschen wurde eine Quarantäne verfügt. Die Leute „sind jetzt sauer“, sagt Landrat Sven-georg Adenauer (CDU), ein Enkel des Kanzlers. Sauer ist die Untertreibung des Jahres: Sie sind wütend, so wütend.
Wie Clemens Tönnies schläft, das weiß man nicht so genau; aber der Betrieb schläft am Donnerstag nicht: Die ersten Arbeiter kommen am Morgen, gehen mit Mundschutz in den Betrieb, nein, sie möchten nichts sagen, und Wachleute in Schwarz schauen zu. Ist Tönnies nicht geschlossen? Geschlossen ist der Schlachtbetrieb, aber die Schweine, die bis Mittwoch starben, die liegen zum Teil noch in den Kühlhäusern, die müssen noch verarbeitet werden. Und so heißt es vom Gesundheitsamt des Kreises
Gütersloh: Ein, zwei Tage werde daran noch gearbeitet.
Der Werksverkauf ist ebenfalls geöffnet, doch niemand ist darin bis auf zwei Kassiererinnen. Und auf einem riesigen Parkplatz neben den Produktionshallen parken und fuhrwerken Lkw und Zugmaschinen, locker über 100: Tönnies-laster, mehrere aus Dänemark, ein Laster aus Czarnowice sucht sich gerade einen Platz, und einer von „Dniprotransnafta“fährt ab.
Seit Jahren sei offensichtlich, „was hier stattfindet“, sagt ein Vater
Drüben auf dem Parkplatz am Werkseingang fährt gerade ein Mann vor, er ist sauer, man sieht es daran, wie er einparkt. Steigt aus, wird laut: „Das sind Machenschaften hier, das muss aufhören. Meinem Kind wird seine Abschlussprüfung gestohlen und meinem anderen Kind seine Schulkindzeit.“Markus Schäfer aus Gütersloh, so stellt er sich vor, wollte eigentlich in die Tönnies-verwaltung: „Meine Visitenkarte auf den Tisch knallen und mich im Namen meiner Kinder bedanken!“ Doch nun verliert er sich im Gespräch mit Journalisten, klagt an: Jeder im Kreis sehe an den Sammelpunkten der Werksarbeiter, wie viele in einen Kleintransporter gepackt würden, „zusammengepfercht in einem Bulli“. Seit Jahren sei „offensichtlich, was hier stattfindet“. Ja, auch zuletzt noch. „Der Krug geht zum Brunnen, bis er bricht“, sagt Schäfer: „Ich hoffe, dieser Punkt ist erreicht.“
Das kleine Stadtzentrum von Rheda ist nur 2,5 Kilometer entfernt von diesem Tumult, aber in dem Fußgängerzönchen wirkt es am Donnerstag, als wäre die Stadt bereits zurück im März, als wäre sie schon wieder auf null gefahren. Geschäftsleute und Verkäufer stehen in den Eingängen der Ladenlokale, unterhalten sich über die Straße hinweg. Mehrere bestätigen auf Nachfrage, von Missständen rund um die Fleischfabrik zu wissen, ohne sich dazu auslassen zu wollen. Darunter sind aber auch gleich zwei, die nette Dinge über den Menschen Tönnies sagen, den sie in bestimmten Lebensphasen kannten.
Ansonsten aber geht in der leeren Stadt die Angst um, und sonst nichts. Vor einem zweiten Lockdown. „Die Angst ist da, dass alles wieder schließt“, sagt Sabine Waldhaus in ihrem Klamottenladen „Kinderzimmer“. Und noch mal Hilfe von der Bundesregierung werde es nicht geben. Privat, mit ihren zwei Grundschuljungs, ist sie schon zurück im Lockdown: Leonard (9) und Nolan (7) sitzen wieder hinten im Spielzimmer des Ladens.
Die Eltern waren „entsetzt“, als sie von der Schließung hörten, sagt eine Lehrerin der Brüder-grimmschule. Viertklässler werden demnächst allein und zu Hause von einer Lehrerin verabschiedet. Und die Johannis-grundschule gibt bekannt: „Der für Donnerstagabend vorgesehene Elternabend der Lernanfänger entfällt. Sie bekommen die Informationen per Post.“
Landrat Adenauer versucht alles, die Schließung des Kreises Gütersloh zu verhindern. Den Ausbruch in der Tönnies-belegschaft einzusperren. Tönnies selbst hatte nach den ersten Fällen in der Fleischindustrie gesagt, bei ihm gebe es keine Großunterkünfte. Die Leute wohnten in Mehrzimmerwohnungen, „verteilt auf Stadt und Umland“. Für die Leute mag das gut sein. Für Stadt und Umland nicht: Seit Donnerstag sollen Schulen und Kitas auch in Bielefeld keine Kinder von Tönnies-beschäftigten mehr betreuen. Bielefeld ist 35 Kilometer weit weg.
„Können Sie noch ruhig schlafen,
Herr Tönnies?“Magdalena Sawaczky, Demonstrantin und Mutter, klagt mit einem Demonstrationsschild den Chef der Fleischfabrik an
Der Tönnies-skandal ist längst in der Politik angekommen
Während in der Kleinstadt Eltern und Geschäftsleute ihre Wut und Angst auf die Straße tragen, ist der Skandal rund um den Corona-ausbruch bei Tönnies längst in der Politik angekommen. Vor allem Nordrhein-westfalens Landesvater Armin Laschet (CDU) brachte die Opposition zum Toben, als er auf die Frage, was der erneute Corona-ausbruch über die bisher erlassenen Lockerungen aussage, antwortete: „Das sagt überhaupt nichts aus, weil Rumänen und Bulgaren da eingereist sind und da der Virus herkommt.“Spd-fraktionschef Thomas Kutschaty sprach von unterster Schublade und forderte wie Spdgeneralsekretär Lars Klingbeil und die Gewerkschaft Nahrung-genuss-gaststätten (NGG) eine Entschuldigung. Nach dieser Kritik relativierte Laschet: „Menschen gleich welcher Herkunft irgendeine Schuld am Virus zu geben, verbietet sich“, sagte er. Die Verantwortung liege beim Unternehmen.
Zurück nach Ostwestfalen: Vor der Fleischfabrik sind irgendwann die Demonstranten und der Polizeiwagen fort, auf dem Dach der Produktionshalle drehen sich weiter Darstellungen glücklicher Schweine und Rinder. Eine Demonstration im Zentrum von Wiedenbrück gibt es noch. Und einen kleinen Aufzug vor Tönnies’ Privathaus in ländlicher Umgebung: Fünf, zehn Mütter kommen mit ihren Kindern, malen Regenbogen auf die Straße. Eigentlich, erzählen sie, hätten sie auch vor der Firma protestieren wollen. Aber dann sei ihnen das zu gefährlich erschienen. „Der viele Lkw-verkehr, wissen Sie?“