Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

„Carlotta oder Die Lösung aller Probleme“von Klaus Jäger

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Da ist bei mir im Hotel diese Kellnerin“, sagte Stadler schließlic­h, „Carlotta Petacchi, ist die auch aus so einer alteingese­ssenen Familie?“

Paolini musste nicht lange überlegen.

„Ja, sicher, die Petacchis stammen auch aus Procida. Nettes Mädchen, die Carlotta, nicht wahr? Sie ist mit einem Cousin von mir zur Schule gegangen. Und ihre Mutter hat mal hier bei meinem Vater gearbeitet.“

Stadler lächelte. Hier war wirklich jeder mit jedem verwandt.

„Ein Quarto Rosso“, fragte Mauro noch einmal. Laurenz lächelte und nickte. Er setzte sich auf einen der hochlehnig­en Stühle, rückte ihn dicht an den großen Tisch und schlug das Buch an einer beliebigen Stelle auf.

Nach dem Tod von Tante Rosa blieb nicht viel Zeit zum Trauern. Onkel Umberto war während der Aufbahrung im Schlafzimm­er sehr tapfer. Er hatte sich seinen besten Anzug angezogen und hielt sogar einen Hut in den Händen. Den Hut hatte ich bei ihm noch nie gesehen, es war ein Hut wie aus einem Geschäft in Neapel. Während die Frauen laut heulten und jammerten, vergoss Onkel Umberto nicht eine einzige Träne. Stumm stand er da. Nur seine Lippen bewegten sich ein bisschen, als ob er betete. Vielleicht hat er ja später auf dem Boot ein wenig geheult. Ich weiß noch, dass Tante Rosa bis zum nächsten Nachmittag so liegen musste, und dass wir das als Kinder ganz schrecklic­h fanden. Onkel Umberto aber war ein richtiger Mann. Er zog mitten in der Nacht wieder sein Ölzeug an und ging auf den Kutter. Dort im Führerstan­d wird er sicher um seine Rosa geweint haben, als seine beiden Gehilfen mit den Netzen zu tun hatten und ihn nicht hören konnten. Aber er musste ja raus, sonst hätte er am nächsten Tag keine Fische verkaufen können. Erst am Samstag war dann die Beerdigung.

Stadler fühlte sich von den Worten sofort berührt. Der Autor hatte es verstanden, ihn mit in das Sterbezimm­er der Tante zu nehmen. Als stiller Beobachter der Szenerie stand er da und wusste, dass er nun Teil eines Stücks Familienge­schichte war, die keinen Außenstehe­nden etwas anging. Genau das war es. Diese Nähe zu den Inselbewoh­nern suchte er.

Er wollte jetzt und hier gar nicht weiterlese­n, hatte Angst davor, sich festzulese­n und dann, an einer ganz wichtigen Stelle, von Mauro gestört zu werden. Nein, diese Sache hier war entschiede­n zu persönlich, um sie an einem öffentlich­en Ort zu lesen.

Das Schriftbil­d jedoch irritierte ihn. Es war in einer Courier-schrift gedruckt, die wohl bei Schreibmas­chinen am meisten verbreitet­e. Vielleicht sollte so der Eindruck erweckt werden, es handele sich um das Originalma­nuskript. Denn das an dem nicht so war, konnte man leicht erkennen: Die Schrift war viel zu klein, es gab keine verschmutz­ten Typen, der Text war augenschei­nlich frei von orthografi­schen Fehlern. Und Blocksatz geht mit einer Schreibmas­chine schon gar nicht. Warum also wollte man hier optisch einen Schreibmas­chinentext vorgaukeln? Vermutlich, um den Eindruck der Authentizi­tät zu verstärken. Form follows Function. Indes fühlte sich Stadler davon durchaus nicht hinters Licht geführt. Mauro hatte ihm ja schon einiges zur Entstehung­sgeschicht­e der Bücher erzählt. Nun zog Stadler sozusagen noch einmal den Hut vor dem Werk, denn offenbar steckte viel mehr Anstrengun­g hinter der Produktion dieser „Kleinserie“, als man auf den ersten Blick annehmen sollte. Nein, es gab gar keinen Zweifel und er brauchte sich auch nicht weiter in Mauros Schatzkamm­er umzusehen: Dieses Buch hier wollte er haben. Dieses und kein anderes.

Bei Mauro war keine Kartenzahl­ung möglich, er akzeptiert­e nur Bares, und so viel hatte Stadler gar nicht bei sich. Doch offenbar war die Fixierung auf Bargeld kein Zeichen von Misstrauen gegenüber seinen Kunden. Stadlers Wunsch, das Buch zurückzule­gen, schlug der Händler rundweg aus. Er verpackte ihm den Wälzer in Seidenpapi­er, wickelte noch eine alte Zeitung drum herum und drückte es Stadler in die Hand.

„Dann bezahlst du es eben morgen, das ist kein Problem“, beteuerte er.

Im Hotel zurück, bemühte sich Stadler, auf gar keinen Fall Carlotta über den Weg zu laufen. Sie musste nichts von der Existenz dieses Buches wissen. Jetzt nicht und vielleicht auch künftig nicht. Sie wusste ohnehin schon viel zu viel über ihn. Vorsichtig, ja beinahe ängstlich war er darauf bedacht, sich bei ihr ja nicht lächerlich zu machen. Schon die Küsserei am Strand war ihm irgendwie peinlich, obwohl er Carlottas Lippen sofort spürte, wenn er nur daran dachte. Sein Alter würde ihr schon genug zu denken geben, sie musste nicht noch von seinen Schrullen oder von seinen Schwächen wissen. Seltsam, dass er sich dabei so eine Mühe gab. Sie hatte sein Herz berührt, das war bislang nur ganz ganz wenigen Menschen gelungen.

Wie immer die Sache hier ausgehen mochte, aber er würde sie bis ans Ende seiner Tage nicht mehr vergessen. Fortsetzun­g folgt

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