Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)
Angstfrei ins Wasser
Sicher schwimmen können immer weniger Kinder und Erwachsene. Doch für einen Kurs ist es nie zu spät
Wenn Erwachsene bei Alexander Gallitz zum ersten Mal ins Wasser steigen, schwimmt bei vielen die Angst mit. Das Wasser im Becken ist ruhig und klar. Aber im Kopf rumort es. Da sind sie wieder, die verdrängten Erinnerungen aus Kindheitstagen. Das traumatische Erlebnis, als man von halbstarken Kindern vermeintlich aus Spaß ins Wasser gestoßen oder mit Gewalt untergetaucht wurde. Harmlose Kinderspielchen, die bei manchen auch Jahrzehnte später noch dafür sorgen, dass Wasser der Feind im Kopf bleibt. Bei anderen im Becken können die bösen Erinnerungen aber auch weniger lang zurückliegen. Sie bestehen etwa aus tosenden Wellen im kalten Mittelmeer, Überfahrten mit einem Boot, dicht gedrängten Menschen und Todesangst. Geflüchtete, die alles hinter sich gelassen und es nach Deutschland geschafft haben. Wieder andere hatten als Kind weder Schwimmbad noch See in der Nähe und Eltern, denen Schwimmen egal war.
Die Erwachsenen, die Gallitz im Becken anleitet, haben in der Regel eines gemein: Sie haben neuen Mut gefasst, endlich das Wasser als Feindbild abzustreifen – und doch noch schwimmen zu lernen.
Jeder zweite Erwachsene ist kein sicherer Schwimmer
Alexander Gallitz ist Präsident des Deutschen Schwimmlehrerverbands. Der frühere Leistungsschwimmer der deutschen Nationalmannschaft betreibt heute eine private Schwimmschule an mehrezudem ren Standorten in Bayern, aber auch in Nordrhein-westfalen. Dort bringen er und sein Team, neben der Schwimmtrainer-ausbildung, auch Kindern und Erwachsenen das Schwimmen bei. Ihr Motto: Spielend schwimmen lernen – ohne Druck und Angst. Anfangs muss er erst mal Vertrauen aufbauen: „Das Gehirn arbeitet so, dass die Angst über die Jahre immer stärker wird, so entstehen Blockaden.“
Wer bei Gallitz oder anderen ausgebildeten Trainern im Becken liegt, der hat den ersten Schritt auf dem Weg zum sicheren Schwimmer schon geschafft. Doch bis hierhin kommen immer weniger.
59 Prozent der Zehnjährigen und rund die Hälfte der Erwachsenen in Deutschland sind keine sicheren Schwimmer. Das ergab 2017 eine Studie der Deutschen Lebens-rettungs-gesellschaft (DLRG). Als sichere Schwimmer gelten laut DLRG jene, die alle Disziplinen des Schwimmabzeichens in Bronze erfüllen, auch „Freischwimmer“genannt. „Alle Experten, Sportwissenschaftler und unsere Ausbilder sind sich einig, dass die Prüfungsanforderungen des Seepferdchens dafür zu gering sind“, sagt Dlrg-experte Achim Wiese.
Den Hauptgrund für die mangelnde Schwimmfähigkeit hierzulande sieht die DLRG in den bundesweit fortschreitenden Bäderschließungen und in der mangelnden Schwimmlehrerausbildung an Schulen. Knapp 25 Prozent aller Grundschulen bieten gar keinen Schwimmunterricht mehr an, weil ihnen kein Bad zur Verfügung steht, berichtet Wiese. Viele Grundschulschwimmlehrer seien zudem nicht als solche ausgebildet und könnten Kinder zwar anleiten, aber im Ernstfall nicht im Wasser retten.
Die mangelnden Möglichkeiten haben drastische Folgen: Allein die DLRG hat vergangenes Jahr 950 Menschen bei Badeunfällen gerettet. Mindestens 417 Menschen sind ertrunken, davon 362 an oft unbeobachteten Binnengewässern, wie Flüssen mit starker Strömung. Für die bevorstehende Badesaison befürchtet die DLRG sogar höhere Zahlen. Denn aufgrund der Corona-pandemie waren Schwimmhallen wochenlang geschlossen und Kurse unterbrochen.
Die Experten raten daher dringend dazu, nur dort schwimmen zu gehen, wo es eine Aufsicht gibt. An Stränden markiert die DLRG diese Abschnitte mit rot-gelben Flaggen. Außerdem sollten Eltern Kleinkinder und solche, die noch nicht oder nur schlecht schwimmen können, niemals allein oder unbeaufsichtigt ins Wasser lassen – auch nicht mit Schwimmhilfen oder auf Luftmatratzen, warnt Dlrg-experte Achim Wiese.
Neben der eigenen Sicherheit ist für viele auch die Gesundheit ein Grund , auch als Erwachsener noch das sichere Schwimmen im Kurs zu erlernen. Zwar sollen Kurse erst ab September wieder starten. Doch Interessierte sollten sich so früh wie
möglich anmelden. Das Angebot könnte in den nächsten Monaten knapp werden, schätzen DLRG und Gallitz.
Anlaufstellen gibt es mehrere. Anfänger-schwimmkurse für Kinder und Erwachsene bieten nicht nur die örtlichen Bäderbetriebe und die Vereine des Deutschen Schwimmverbands (DSV) an. Auch die DLRG, das Deutsche Rote Kreuz oder private Schwimmschulen haben ein Angebot. Die Qualität der Kurse und die Kosten können sich je nach Anbieter deutlich unterscheiden. Ein Kurs kann je nach Anbieter und Region 50 bis 100 Euro kosten, für einkommensschwache Familien gibt es häufig Rabatte oder sie können Unterstützung beim Amt beantragen.
In guten Kursen sind die Gruppen bewusst klein gehalten und sie finden außerhalb der Hauptbesuchszeiten statt. Das hilft besonders Erwachsenen mit Scham. Als Basis empfehlen sich mindestens acht bis zehn Unterrichtseinheiten zu je 30 bis 45 Minuten.