Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)
Der Spitzel
Rainer Börner aus Nordhausen räumt in der Volkskammer ein, als Fdj-funktionär inoffizieller Zuträger der Stasi gewesen zu sein
Gebanntes Schweigen in der demokratisch gewählten Volkskammer vor 30 Jahren. Rainer Börner, Abgeordneter der PDS, sagt öffentlich: Ja, er hat der Stasi zugearbeitet. Als IM. Börner ist der erste Abgeordnete, der sich freiwillig öffentlich zu seiner Spitzeltätigkeit bekennt, vor der versammelten Volkskammer. Joachim Gauck geht zu ihm, gibt ihm für alle sichtbar die Hand, sagt: „Kollege, nicht wegen damals, aber wegen eben.“So wird die Szene in dem Buch „Joachim Gauck: Kleine Anekdoten aus dem Leben eines großen Politikers“geschildert.
Rainer Börner erinnert sich nicht an Gaucks Zuspruch, sagt aber: „Dann wird es so gewesen sein…“Er ist in der Situation – vor mittlerweile 30 Jahren – wohl zu aufgewühlt, denn sein Bekenntnis, das er vom Blatt liest, ist höchst umstritten: Als er sich zuvor seiner Fraktion offenbart und sagt, was er vorhat, sind alle dagegen – bis auf Michael Schumann (1946 – 2000), der aus Zella-mehlis stammt und als Reformer auf dem Weg von der SED zur PDS gilt. „Er sagte mir, dass das allein meine Entscheidung ist“, erinnert sich Börner. Noch kurz bevor er an jenem 20. September 1990 ans Mikrofon tritt, um seine Erklärung abzugeben, kommt Fraktionschef Gregor Gysi zu ihm und bittet darum, das Eingeständnis um eine Woche zu verschieben: „Der wollte einfach nur Zeit gewinnen“, sagt Börner. Zudem sei, weil nichts vorliege, so ein Eingeständnis „nicht nötig“, habe ihm Gysi erklärt. Die Sicht eines Anwalts.
Börner will nicht taktieren. Klarheit ist er seinen neuen Freunden aus der Bürgerrechtsszene schuldig. Und sich selbst. Zustimmung erhält er im Parlament unter anderem vom Neuen Forum: Der Magdeburger Abgeordnete Hans-jochen Tschiche (1929 – 2015) setzt sich demonstrativ neben Börner. Drückt ihm die Hand. „Das war gut so.“Und Wolfgang Ullmann (1929 – 2004) von Bündnis 90 sagt, so steht es damals in der Zeitung: „Das war anständig, ein Vorbild, dem hoffentlich gefolgt wird.“
Lieber Blues in Steinbrücken als Studium in Moskau
Rückblick: Rainer Börner kommt 1956 in Nordhausen zu Welt, macht dort 1975 Abitur – und könnte in Moskau Mathematik studieren. Börner gehört zur Bluesszene. Was soll er fern der Heimat in der Sowjetunion büffeln, wenn in Steinbrücken die Musik spielt?! „Da waren meine Freunde.“Börner, der Landwirtssohn, fährt ein paar Monate Traktor in der LPG, macht den Grundwehrdienst bei der NVA und studiert dann an der Hochschule für Ökonomie in Berlin-karlshorst unter anderem Demografie. In dielässt ser Zeit tritt er auch in die SED ein. Aus dem Diplomwirtschaftler wird ein hauptamtlicher Fdj-sekretär, erst an der Hochschule, dann bei der Fdj-bezirksleitung in Berlin. Die wissenschaftliche Laufbahn, die Börner anstrebt, liegt wegen der Delegierung durch die Partei auf Eis. Als er bei der FDJ zum Sekretär für Kultur aufrückt, ist Börner an der Organisation des Festivals des politischen Liedes beteiligt. Es geht um all die großen Konzerte, von denen noch heute geredet wird: In den 1980er Jahren dürfen in Ostberlin Depeche Mode, Rio Reiser, Bob Dylan oder Bruce Springsteen auftreten…
Und in den Jugendklubs geht es um die Frage, ob Punkbands wie „Die Skeptiker“auf die Bühne dürfen. „Es war bedrückend und spannend zugleich“, sagt Börner über diese Zeit, in der „jedes Wort auf die Goldwaage gelegt wurde und es deshalb ständig Auseinandersetzungen um die Texte gab“. Und manchmal kommt einer und will von Börner wissen, wie er diesen oder jenes einschätze. Er sagt, was er denkt. Und nimmt sich bis heute nicht heraus zu behaupten, dass er damit keinem geschadet habe. Das wäre, sagt er, nicht redlich.
1989 verändert sich die Situation in der DDR rapide: Immer mehr Menschen protestieren. Wenige Tage nach der großen Demonstration vom 4. November 1989 in Berlin fällt die Mauer. Börner knüpft Kontakt zum Stadtjugendpfarrer Berlin, auch weil er sich Sorgen macht, dass die friedliche Stimmung kippen könnte. Der Kultursekretär, der im November 1989 von seinem Posten zurücktritt und damit ein Zeichen setzt, vertritt bald am Zentralen Runden Tisch die SED-PDS. Er ist dabei, als Parteimitglieder vor dem Zentralkomitee (ZK) stehen. „Die sollten spüren, dass sich etwas verändern muss.“In der SED gilt er als junge Kraft. Börner wird zum Delegierten des Sonderparteitags im Dezember 1989, kommt so in den neuen Parteivorstand und steht auf der Volkskammerliste für die Wahl am 18. März 1990.
Von Anfang an spielt in der frei gewählten Volkskammer die Frage, wer in der DDR Spitzel war, eine Rolle. Am 20. September 1990 bricht Börner sein Schweigen. Das hat mit Bärbel Bohley, Reinhard
Schult, Wolfram Kempe und andere Bürgerrechtler zu tun. Viele Nachahmer aber findet Börner nicht. Statt reinen Tisch zu machen, ziehen es die meisten IM vor, abzuwarten. Manche sagen womöglich aus Scham nichts. Andere, weil dieses Schweigen Teil des Vertrags mit der Staatssicherheit ist. Und weil sie hoffen, nie entdeckt zu werden.
Wäre es für Börner um die Abwägung gegangen, wie groß die Gefahr ist, dass seine Unterlagen auftauchen, hätte er still sein können. Bis heute, sagt er, liegt seine Akte nicht vor. Aber er weiß in einem konkreten Fall, dass sein Im-bericht in die Opfer-unterlagen von Stefan Krawczyk, Liedermacher und fast gleich alt wie Börner, eingeflossen ist. Börner erinnert sich an die Situation: Bei einem Liedersommer der FDJ tritt der Mfs-verbindungsoffizier an Börner beim Feierabendbier heran und nimmt ihn an die Seite. Der Stasi-mann will wissen, wie das Auftrittsverbot des Liedermachers in der Szene eingeschätzt wird. Börner will gesagt haben: „Auftrittsverbot ist Scheiße“, aber bei Krawczyk gebe es keine so große Solidarisierung,
weil er in der Szene nicht so viele Freunde habe. Die Stasi kann daraus schließen, dass die weitere Ächtung des Musikers nicht besonders hohe Wellen schlagen wird. „Und weil ich es nicht in der Hand hatte, was die Stasi aus solchen Informationen macht, kann ich niemals behaupten, ich hätte keinem geschadet.“
Die Hauptverwaltung hätte ihn gerne für die Auslandsspionage
In den Fokus der Stasi rückt Börner schon viel früher. Da ist er noch Student. Ende der 1970er Jahre darf er mit der FDJ ins nichtsozialistische Ausland. Die Delegation will zur Naturfreundejugend in Frankfurt/ Main, kommt aber bei Spontis unter. Börner wird einer Wohngemeinschaft zugeteilt. Er raucht seinen ersten Joint. Die Diskussionen sind spannend. Eigentlich würde gerne er ein solches Leben führen. Aber andererseits steht für ihn nicht zur Debatte, seine Heimat zu verlassen. „Familie und Freunde sind für mich so wichtig, dass ich die nicht aufgeben könnte und wollte.“Bei der Rückkehr in die DDR jedenfalls soll er geworben werden. – und zwar von der HV A, der Hauptverwaltung, die für die Spionage im Ausland zuständig ist. Börner wird gefragt, ob er bereit wäre für den Einsatz in der Bundesrepublik. Er sagt aus den genannten Gründen Nein zum Einsatz im Westen. Zugleich wird er gefragt, ob er prinzipiell zur Zusammenarbeit bereit sei? Ja. Er unterschreibt eine sogenannte Verschwiegenheitserklärung. „Aber das war mehr als nur eine Verschwiegenheitserklärung. Das hätte ich wissen können. Ich musste mir einen Decknamen aussuchen.“Danach hört Börner lange nichts Inoffizielles von der Stasi. „Erst als ich in der FDJ für Kultur zuständig war, kam der zuständige Mfs-offizier. Der nahm mich zur Seite, sagte: Rainer, du hast dich doch mal bereit erklärt, mit uns zusammenzuarbeiten. Und ich habe Interesse zu erfahren, wie du künstlerische Entwicklungen einschätzt.“Diese Gespräch sollen aber nicht vor aller Augen in Börners Büro stattfinden. Es sei besser, sich außerhalb zu treffen. In einer konspirativen Wohnung. Börner sich darauf ein…die SED wandelt sich zur PDS; Börner ist bald im Präsidium für Bündnispolitik zuständig. So kommt er mit den Vertretern der Oppositionsgruppen der DDR in Kontakt – und diese Verbindungen intensivieren sich im Sommer 1990, als es die erste gesamtdeutsche Oppositionskonferenz in Berlin gibt. In dieser Zeit entwickelt sich „eine andere Sicht auf meine vormalige Tätigkeiten“, sagt Börner. „Davor war mir nicht bewusst, dass ich eine IM war. Als im Frühjahr 1990 die Überprüfungen begannen, fühlte ich mich gar nicht betroffen.“Lange habe die Verdrängung funktioniert, sagt er.
Als im September 1990 die Stasizentrale in Berlin besetzt wird, ist Börner mit dabei – als Besucher und Unterstützer: „In einer dieser nächtlichen Runden habe ich zunächst einer kleineren Gruppe mit Bärbel Bohley, Reinhard Schult und drei, vier anderen gesagt, dass ich IM war.“Im Raum steht nun die Frage, wie sie miteinander umgehen wollen. „Bärbel sagte: Genau so wollen wir miteinander umgehen. Offen und ehrlich.“Börner fällt ein Stein vom Herzen, wie er sagt. Es bleibt nicht beim Geständnis im kleinen Kreis. „Deine Öffentlichkeit ist die Volkskammer“, sagt ihm Bärbel Bohley – und Börner ist klar: „Diesen Schritt muss ich gehen.“Er will, dass offen darüber geredet wird, was war und wie damit umgegangen werden soll. Börner stellt sich der öffentlichen Debatte nach seinem Eingeständnis in der Volkskammer. So im November 1990 im Haus der jungen Talente in Berlin: „Das war schon ein bisschen Spießrutenlaufen. Aber das musste ich machen. Alles andere wäre eine billige Ausrede gewesen.“Vorwürfe entkräften kann er nicht. „Von diesen Ausreden haben wir damals alle zu viel gehört…“
Ende 1992 nimmt Börner Abschied von der PDS
Der PDS verbunden ist Börner bis Ende 1992. In den Monaten zuvor gibt es Auseinandersetzungen wegen inhaltlicher und personeller Fragen. Als Hans Modrow im Sommer 1992 Börner vorwirft, diesem gehe es um die Macht, fühlt er sich bewusst missverstanden und tritt sofort zurück. Auch das Stasi-thema schwelt: Börner gehört zu denen, die fordern, dass jeder sich erklärt – und dass eine falsche Erklärung Folgen haben soll bei der Besetzung von Funktionen. „Das war von vielen nicht gewollt...“Eins kommt zum anderen: Für Börner ist Ende 1992 Schluss mit der PDS. Er tritt aus. Und gehört seither keiner Partei mehr an. Auch die Zeiten im Rio-reiser-archiv sind mittlerweile Vergangenheit. Börner, inzwischen Mitte 60, kümmert sich ehrenamtlich um einen Jugendklub, um Flüchtlinge – und hat ansonsten „einen ganz normalen Bürojob“.
„Den Schritt an die Öffentlichkeit musste ich gehen. Alles andere wäre eine billige Ausrede gewesen.“Rainer Börner, 1990 bekennt er in der Volkskammer, IM gewesen zu sein