Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)
„Von Deutschland isoliert“
Warum die Pandemie Flüchtlinge besonders belastet und wie ein Erfurter Beratungsbüro Brücken in den Alltag baut
Eine Karte im Büro zeigt die Welt auf ungewohnte Weise: Vor fast 50 Jahren schuf der Kartograph Arno Peters eine Projektion der Erde, die die Größenverhältnisse der Kontinente korrigiert. Afrika erscheint langgestreckt und viel größer, dafür ist Europa geschrumpft und wandert an den unteren Rand. „Perspektiven wechseln“steht über der Weltkarte und hat viel mit dem zu tun, was in den Räumen dieser Beratungsstelle des evangelischen Kirchenkreises der Stadt passiert.
Sie geben hier Deutsch-unterricht, beraten bei Behördengängen, helfen durch den Dschungel der deutschen Verwaltung und des Asylrechts. Das schöne Schlagwort „Integration“, aufgeregte Debatten wie die, ob Thüringen 200 Minderjährige aus den griechischen Flüchtlingslagern verkraften kann, wird an diesem Ort heruntergebrochen auf Namen und Schicksale. Menschen mit Nöten und Hoffnungen. Um den deutschen Alltag aus ihrer Perspektive geht es hier.
Die Corona-krise hat sie getroffen wie alle, und viele von ihnen zusätzlich auf eine Weise, die bei all den Aufregungen der vergangenen Wochen unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung blieb. Der Lockdown, sagt Husam Albudi, hat die Geflüchteten von Deutschland isoliert. Vor allem jene, die noch nicht lange hier sind, die gerade erst begonnen haben Tuchfühlung mit diesem Land aufzunehmen. Das betrifft nicht nur die Sprache, aber mit ihr fängt alles an.
Der Syrer gibt hier Deutschunterricht, im Februar begann der neue Einsteigerkurs, dann kam Corona. Wo es möglich war, erteilte er Unterricht aus der Ferne. Magd A. hat diese Chance genutzt. Auch er stammt aus Syrien, hat ein Medizinstudium beendet, um das schwierige Prozedere zu beginnen, das ihm erlaubt in Deutschland als Arzt zu arbeiten, braucht er die Sprache, und er will keine Zeit verlieren. Für ihn ist diese Beratungsstelle ein Aufbruchsort.
Längst verschüttet geglaubte Erinnerungen melden sich zurück
Telefonisch, sagt Lehrer Albudi, waren wir immer erreichbar, das hat viele beruhigt. Nicht nur, weil der Alltag immer Fragen aufwirft, weil es schwer ist, ständig neue Verordnungen und Regeln zu verstehen, wenn die Sprachbarriere für die Nachrichten im Fernsehen zu hoch ist. Die Zeit, in der plötzlich so vieles in Frage steht, unbeantwortet ist, macht auch die Seele anfällig.
Nguyenthi Ung, die diese Beratungsstelle seit vielen Jahren leitet, hat es selbst erlebt. Sie kam einst als eine der vietnamesischen Vertragsarbeiter in dieses Land. Als Kind, erzählt sie, hat sie den Krieg in Hanoi erlebt. Die Nachrichten aus dem
Radio die ankündigten, dass die Amerikaner den Norden des Landes bombardieren würden; die Ermahnungen der Erwachsenen, stets zu wissen wo der nächste Schutzbunker ist: Längst verschüttet geglaubte Erinnerungen, die sich plötzlich in der ersten Zeit der Corona-krise meldeten. Das hat sie überrascht und beunruhigt. Sie hatte sich damals gefragt, wie es wohl anderen ergeht. Menschen zum Beispiel die erst vor Kurzem in die deutsche Sicherheit flüchten konnten, mit Erinnerungen und Bildern im Nacken die noch sehr frisch sind.
Diese Zeit macht dünnhäutig. Und sie schafft für viele Geflüchtete neue Ungewissheiten. Conrad Springer, der bei Fragen von Sozialrecht und Asylrecht berät, bekommt derzeit die Verzweiflung von Menschen zu spüren, die gerade vergeblich auf die Zusammenführung mit ihren Ehepartnern oder Kindern warten, die in Syrien auf ihre Ausreise warten. Die Wartezeiten auf das nötige Visum in einer deutschen Botschaft beträgt ohnehin bis zu anderthalb Jahren. Wegen der Pandemie sind die Botschaften geschlossen, es ist unklar, wann sie öffnen und welche Folgen es für das weitere Prozedere haben wird. Diese Ungewissheit, die tägliche Angst um die Angehörigen während einem aus der Ferne die Hände gebunden sind: Das alles muss kaum auszuhalten sein, sagt Berater Conrad.
Masud H. spricht von großer Verunsicherung. Er war noch ein Jugendlicher, als er aus Afghanistan flüchtete. Inzwischen hat er Deutsch gelernt, die Regelschule beendet, verdient sein Geld bei einem Pizza-lieferdienst. Ich habe, bemerkt er, doch alles richtig gemacht. Aber seit Geflohene wieder nach Afghanistan zurückgeschickt werden, schläft er nachts schlecht. Er mag nicht abwägen, ob und wie die Corona-situation auf subtile Weise seine Angst vergrößert hat. Das würde ihm ohnehin nicht weiter helfen und nicht deswegen ist er gekommen.
Er schiebt Antragsformulare auf den Schreibtisch, er will keinen
Fehler machen. Man muss nicht aus Afghanistan kommen, um an einem beamtendeutschen Formular zu verzweifeln. Es geht um „Leistungen für Bildung und Teilhabe“, nicht für ihn, sondern für seine zwei Schwestern. Die Jüngste ist 13 Jahre alt und besucht eine Regelschule. Sie will gut sein, irgendwann ihr Abitur machen. Aber das Lernen fällt schwer. Ihre Wohnung hat 65 Quadratmeter und sie sind in der Familie zu siebt. Die geschlossene Schule, sagt der Bruder, hat sie zurückgeworfen, sie muss viel arbeiten, um das nachzuholen.
Viele Flüchtlingsfamilien treibt das um, bestätigt Juliane Kabischlindenlaub. Sie koordiniert und unterstützt die Arbeit von Ehrenamtlichen, bringt Geflüchtete mit Helfern zusammen. Gerade hat sie mit einer jungen Syrerin gesprochen, die sich einen Kontakt wünscht. Vielleicht zu einer jungen Erfurter Mutter wie sie es ist. Für gemeinsame Unternehmungen, wenn es richtig gut läuft, für eine Freundschaft. Die Beratungsstelle arbeitet inzwischen mit etwa 90 ehrenamtlichen Helfern zusammen. Jeder zehnte von ihnen war selbst einmal fremd hier.
Die Wochen des Homeschoolings, weiß Mitarbeiterin Kabischlindenlaub, haben in vielen Flüchtlingsfamilien große Ratlosigkeit hinterlassen. Nicht nur wegen mangelnder Sprachkenntnisse, auch wegen fehlender Tablets und Laptops zu Hause. Die Eltern fragen sich, wie ihre Kinder die Rückstände aufholen sollen. Es gab Ehrenamtliche, die haben sich um Hausaufgabenhilfe aus der Ferne bemüht. Aber große Lücken sind damit kaum zu schließen.
In normalen Zeiten bieten sie in der Beratungsstelle jeden Mittwoch Hausaufgabenhilfe an. Aber das ist bis heute nicht möglich, es wären einfach zu viele Kinder. Sobald auch sie wieder öffnen kann, werden uns die Herausforderungen noch lange begleiten, ist Nguyenthi Ung klar. Im Juni bestand die Beratungsstelle seit 20 Jahren. Verlässlich und unaufgeregt. Ein Beispiel dafür, was Integration braucht, wenn sie gelingen soll.