Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)
„Carlotta oder Die Lösung aller Probleme“von Klaus Jäger
Vom höchsten Punkt des Gartens aus drehte er sich um. Er ließ seinen Blick über Haus und Grundstück schweifen und überlegte, was er daraus machen würde. Denkbar war einiges, aber nur weniges für ihn. Bei jeder Veränderung, die er sich vorstellte, schob sich der Gedanke in den Vordergrund, was wohl seine Mutter dazu sagen würde. Nein, er wäre eindeutig zu zaghaft in der Umsetzung neuer Ideen.
Als er den leicht abschüssigen Weg wieder hinunterging, fasste er den Entschluss, das Haus zu verkaufen. Unwiderruflich. Gleich morgen würde er mit Renate Hausdörfer reden und alles Notwendige für eine Haushaltsauflösung in die Wege leiten.
Es fiel Laurenz Stadler schwer, sich einzugestehen, dass er das Gebäude einmal modern und schön empfunden hat. Als Stadler 1980 die heiligen Hallen des Münchner Boten betrat, da kam er sich großartig vor. So eine große Zeitung, und er war ein Teil davon. Ja, die ersten Jahre, in denen er in der Lokalredaktion arbeitete, war er immer nur „besuchsweise“in der Metropole. Aber jedes Mal, wenn er durch die große Drehtür schritt, kam er sich besonders wichtig vor. Er war ein Teil der Macht, der vierten Gewalt. Er hatte Deutungshoheit. Er und seine Kollegen. Über zweihundert Redakteure waren es damals, zu den freien Mitarbeitern gab es nie eine verlässliche Zahl.
Und schließlich, sein Einzug ins Feuilleton. Jetzt gehörte er endgültig dazu, gehörte zu den Medienmachern, zu den Meinungsmachern. Sein Federstrich genügte, um Karrieren zu befördern oder zu zerstören. Und das war nicht übertrieben – zumindest nicht beim Feuilleton. Der Name Stadler hatte bald einen Klang und das im wahrsten Sinne des Wortes. Bewies er im ersten Jahr, wie fundiert er musikalische Aufführungen rezensieren konnte, dann galt er im zweiten Jahr schon als wichtige Stimme. Solisten luden ihn in Konzerte ein. Ensembles fühlten sich schon geehrt, wenn er nur im Publikum saß. Und ein Verriss von Laurenz Stadler konnte durchaus etwas Existenzielles sein.
Er erinnerte sich gut daran: Böhringer war gerade Chefredakteur geworden, da zerriss Stadler einen Auftritt eines kleinen philharmonischen Orchesters. Nicht, dass er etwas gegen Amateure hatte. Amateure, wie der Name schon sagt, waren Liebhaber, fachkundige Liebhaber zumeist, die so manche Interpretation liebevoller und leidenschaftlicher hinbekamen als ein mangelhaft motivierter Profi. Was diese Truppe jedoch ablieferte – Stadler hatte inzwischen ihren Namen vergessen –, war schon starker Tobak.
Dass man sich an Mozart vergriff, wäre noch verzeihlich gewesen. Es war Sommer und das kleine Konzert im Burghof stand unter dem Thema „Kleine Nachtmusiken“. Was aber wirklich zu hören war, war ein Katzenjammer. Man sollte, Profi hin oder Amateur her, wenigstens sein Handwerkszeug beherrschen.
Wer eine Violine nicht spielen kann, aber will, der sollte Unterricht nehmen, bevor er öffentlich zum Instrument greift. In diesem Falle fehlte gleich drei Musikern das diesbezügliche Schamgefühl. Und Laurenz Stadler hatte nichts weiter gemacht, als genau das aufzuschreiben.
Der Aufruhr war groß. Erbost schrieb die Orchesterleiterin an den Chefredakteur: Was für eine Undankbarkeit, ja eine Frechheit sich der Stadler herausnehme. Ob der nicht wisse, wie sich die Musiker bemüht hatten? Ob dieser Stadler glaube, nur weil er bei der Zeitung sei, könne er sich alles herausnehmen? Ob dieser Stadler jemals ein Instrument gespielt habe? Ob das der Dank dafür sei, dass man ihn, den Stadler, zu dem Konzert eingeladen habe? Sogar eine kostenlose Eintrittskarte habe er erhalten! Da gebiete es doch die Höflichkeit ... Und so weiter und so fort. Kurz: Die Kritikfähigkeit der Dame ging gegen Null. Wer ein Konzert besucht, so der Grundtenor, habe gefälligst zu klatschen. Entweder aus Begeisterung oder wenigstens aus Höflichkeit.
Nun, Hans Böhringer schickte eine kurze, aber eindeutige Antwort an das Ensemble. Man muss ihm zugutehalten, dass er genau dieselbe Antwort geschickt hätte, wenn er nicht mit Stadler befreundet gewesen wäre. In solchen Fragen war auf Böhringer Verlass. Er stellte sich, zumindest nach außen hin, immer hinter seine Leute. Weder Hans Böhringer noch Laurenz Stadler hatten jemals wieder etwas von der Dame gehört. Zu einem Konzert der kleinen Philharmonie wurde Stadler jedenfalls nie wieder eingeladen.
So war das damals, im Feuilleton. Und jetzt die Rückkehr.
Nicht nur sein Job selbst war inzwischen entzaubert. Die Zentrale auch. Der Münchner Bote war nichts weiter als ein Zeitungshaus, das keinen Verleger mehr hatte, sondern von den Erbsenzählern des Controllings kastriert wurde. Nicht weniger als 45 Redakteure hatten in den letzten zwei Jahren ihren Hut nehmen müssen, nachdem eine namhafte Unternehmensberatung den Eigentümern das Sparpotenzial aufgezeigt hat. Fortsetzung folgt