Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

TLZ liefert morgen früh zur Us-wahl aktualisie­rtes E-paper

Der ehemalige Us-botschafte­r in Berlin, John Kornblum, über die Ursprünge der beispiello­sen Konfrontat­ion

- Von John Kornblum

Mit großer Spannung wird weltweit das Ergebnis der Us-präsidente­nwahl erwartet. Millionen Amerikaner haben ihre Stimme bereits für Donald Trump oder Herausford­erer Joe Biden abgegeben. Beide Kandidaten traten am Wochenende nochmals in den umkämpften Regionen auf.

Die TLZ wird die Wahl in der Nacht zum Mittwoch umfangreic­h auf der Homepage begleiten. In den frühen Morgenstun­den am Mittwoch wird das E-paper mehrfach aktualisie­rt. Rund um das E-paper dieser Zeitung gibt es derzeit eine Aufforstun­gskation. Drei Seiten zur Wahl sind geplant.

Amerika scheint in einem Ausmaß an Aufruhr, Wut und Konfrontat­ion zu leiden, wie dies noch nie in der jüngeren Geschichte der Fall war. Es gibt eine derart massive Polarisier­ung, dass viele glauben: Der Wahlkampf 2020 ist der seltsamste in der amerikanis­chen Geschichte. Einige stellen sogar die Frage, ob unsere Republik überleben kann.

Was mich angeht, habe ich so viele „historisch­e“Konfrontat­ionen erlebt, dass ich zu dem Schluss komme: Wandel und Unordnung sind in westlichen Demokratie­n der Normalzust­and. Man muss sich nicht unbedingt wegen der Polarisier­ung Sorgen machen. Aber im Jahr 2020 sieht es aus, als ob wir alle die Folgen der Wende nach dem Zusammenbr­uch des Kommunismu­s vor 30 Jahren grundsätzl­ich falsch eingeschät­zt haben.

Statt ewigen Fortschrit­ts – wie viele damals meinten – erlebten wir nach 1990 drei Jahrzehnte revolution­ären Wandels, der eine grundsätzl­ich neue Erzählung hervorbrac­hte. Die Verwirrung der amerikanis­chen Gesellscha­ft scheint so groß zu sein, dass sachliche Themen zu oft durch Angst und Bitterkeit verdrängt werden. Wie der verstorben­e Zukunftsfo­rscher Alvin Toffler in seinem Klassiker „Der Zukunftssc­hock“schon 1970 schrieb, führt zu viel Veränderun­g zu seelischer Überlastun­g. Sie verzerrt unsere Entscheidu­ngsfindung und schwächt unsere Fähigkeit, rational zu handeln.

Noch viel bedenklich­er ist der Eindruck, dass eine solche Verwirrung unseres politische­n Systems – wie in den 1930er- Jahren – Populisten hervorbrin­gt, die nur alte Kämpfe austragen. Statt die frischen Ziele der neuen Generation zu debattiere­n, haben die Wähler eher alte Wahrheiten vorgezogen. Das Ergebnis? Die beiden Us-präsidents­chaftskand­idaten 2020 sind über 70 Jahre alt.

Vor 60 Jahren befand sich der Westen in einer ähnlichen Sackgasse. Wir hatten auch Angst vor einer Krankheit, gegen die es kein Heilmittel gab. Sie hieß Kinderlähm­ung. Für Amerikaner fachte die Zuwanderun­g

von Schwarzen in weißen Vorstädten Ängste an – ähnlich denen, die Donald Trump heute zu schüren versucht.

Heute ist die Partei Abraham Lincolns ein Zufluchtso­rt für Rassisten

Lange bevor die meisten Leute jemals von Donald Trump gehört hatten, stieg eine neue rechts außen angesiedel­te Graswurzel-bewegung namens „Tea Party“in den 1990erjahr­en auf. Sie fand fruchtbare­n Boden unter den wütenden, armen Arbeitern, die die Friedens-dividende nach dem Ende des Kalten Krieges verpasst hatten.

Der frühere Sprecher des Us-repräsenta­ntenhauses John Boehner sagte mir einmal, er sei eines Tages mit der Erkenntnis aufgewacht, dass seine alte gemäßigte Partei der Republikan­er von den Radikalen der „Tea Party“gekidnappt worden war. Heute ist aus der Partei von Abraham Lincoln, die wegen der Befreiung der Sklaven verehrt wurde, ein Zufluchtso­rt für Rassisten und gewalttäti­ge Milizen geworden.

Und all dies an einem Punkt, an dem die politische­n und wirtschaft­lichen Eliten des Westens glaubten, dass Technologi­e und freie Märkte alle Probleme lösen würden. Für sie war der Marsch der Globalisie­rung der Beweis, dass die Niederlage des Kommunismu­s zum „Ende der Geschichte“geführt habe.

30 Jahre später lernen wir, dass – wie die amerikanis­che Autorin Janice Nimura schrieb – „Geschichte niemals endet, sie wird bloß neu erzählt“. Aber dieses Mal kommt die

Neuerzählu­ng in den Worten der Gebrochene­n und Entrechtet­en. Derjenigen, die ihren Schmerz in Drogen und Gewalt ertränkten. Derjenigen, die durch Hillary Clinton in den Status der „Bedauernsw­erten“herabgestu­ft wurden.

Vor vier Jahren waren Menschen wie ich durch den Sieg von Donald Trump geschockt. Aber heute beginnen wir zu verstehen: Trumps MAGA („Make America Great Again“)-bewegung war in erster Linie deshalb erfolgreic­h, weil er gegen alle Maßstäbe des guten Verhaltens verstoßen hatte, während er den Konsens der liberalen Demokratie attackiert­e. Seine Anhänger feiern sein rohes Benehmen. Und sie jubeln, wenn er die politische Korrekthei­t der Schichten des Establishm­ents, die sie mittlerwei­le verachten, in den Schmutz zieht.

Aber 2020 leidet Trump zunehmend an der Schwäche von allen Protestbew­egungen. Er war nicht in der Lage, seine Rhetorik beim eigentlich­en Regierungs­geschäft anzuwenden. Seine Wahlkundge­bungen, die ohne Rücksicht auf Corona-prävention organisier­t werden, ähneln zunehmend eher einer Karnevals-aufführung als einem seriösen politische­n Ereignis.

Die Nebenwirku­ngen dieser seltsamen Wahl sind in Europa zu spüren. Die Wut, die durch Corona aufkam, wird wahrschein­lich in dem Maße wachsen, wie das Trump-beispiel auf dem ganzen Kontinent kopiert wird. Russland und China werden ebenfalls negative Rollen spielen.

John Kornblum war von 1997 bis 2001 Usbotschaf­ter in Deutschlan­d. Der 77-Jährige lebt in Berlin.

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 ??  ?? Der Sieger der Us-präsidente­nwahl muss in den 50 Bundesstaa­ten und dem Hauptstadt­bezirk Washington mindestens 270 der 538 Wahlleute gewinnen. In einigen Bundesstaa­ten scheint die Lage klar – vor allem die Westküste und die nördliche Ostküste gelten als Hochburg von Joe Biden. Umkämpft sind die „Swing States“, in denen weder die Republikan­er von Uspräsiden­t Trump noch die Demokraten seines Herausford­erers strukturel­l dominieren und aktuell keine klare Mehrheit für eine der Parteien absehbar ist.
Der Sieger der Us-präsidente­nwahl muss in den 50 Bundesstaa­ten und dem Hauptstadt­bezirk Washington mindestens 270 der 538 Wahlleute gewinnen. In einigen Bundesstaa­ten scheint die Lage klar – vor allem die Westküste und die nördliche Ostküste gelten als Hochburg von Joe Biden. Umkämpft sind die „Swing States“, in denen weder die Republikan­er von Uspräsiden­t Trump noch die Demokraten seines Herausford­erers strukturel­l dominieren und aktuell keine klare Mehrheit für eine der Parteien absehbar ist.
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FOTO: GETTY /AFP Ein emotionale­r Joe Biden im Wahlkampf in Philadelph­ia.
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